Nicht eine, sondern viele Welten

LITERATUR Mit der „Sprache der Vögel“ hat Norbert Scheuer ein so rätselhaftes wie fein gesponnenes Sprachkunstwerk geschaffen, das die Form des Tagebuchs eines Bundeswehrsoldaten in Afghanistan hat

Der junge Bundeswehrsoldat Paul Arimond lässt sich freiwillig in Afghanistan stationieren, weil schon einer seiner Vorväter, ein passionierter Hobbyornithologe, im 18. Jahrhundert dorthin gereist war und die Vogelwelt dokumentiert hatte

VON KATHARINA GRANZIN

Man kann versuchen, sich diesem Roman über seinen Titel zu nähern. Die Sprache der Vögel, was kann das sein? Natürlich haben Vögel keine Sprache in jenem Sinne, den Menschen damit verbinden. Je nach Art verfügen sie über ein mehr oder weniger reichhaltiges Lautrepertoire, das Menschen vor Rätsel stellt. Wie hoch der kommunikative Anteil daran ist, lässt sich schwer sagen – ebenso schwer, wie die Frage zu beantworten ist, warum sonst, wenn nicht der Kommunikation wegen, Vögel singen sollten. Andererseits sind die Musik genannten Lautgebilde, die der Mensch produziert, vom konkreten kommunikativen Anlass meist ebenso losgelöst und daher als Phänomen nicht minder rätselhaft. Und man kann diese – stark verkürzte – Einsicht im Prinzip, wenngleich natürlich in sehr unterschiedlichem Maße, auf all jene menschlichen Äußerungen anwenden, die gemeinhin als „künstlerisch“ bezeichnet werden. Auch auf die Literatur.

Teils selbstreferenziell

In diesem Sinne ist „Die Sprache der Vögel“ als Buchtitel mindestens zum Teil selbstreferenziell. In Scheuers Roman ist viel von Vögeln die Rede, sehr viel sogar, geradezu unablässig; von Sperlingen, Wanderfalken, Blauracken, Hirtenstaren und vielen mehr. Viele schöne Vogelzeichnungen schmücken die Seiten zwischen den Texten. Doch trotz ihres gewaltigen thematischen Überhangs würde gleichzeitig niemand behaupten wollen, dass dieses Buch auch von Vögeln handele. Es handelt vielmehr von einer Geschichte, die gleichsam „durch den Vogel“ geschrieben wurde – vom Schicksal des jungen Bundeswehrsoldaten Paul Arimond, der sich freiwillig in Afghanistan stationieren lässt, weil schon einer seiner Vorväter, ein passionierter Hobbyornithologe, im 18. Jahrhundert dorthin gereist war und die Vogelwelt dokumentiert hatte. Es ist Paul, von dem, wie die Erzählung behauptet, auch die Vogelzeichnungen im Buch stammen. Der junge Mann ist regelrecht besessen von Vögeln. So viele von ihnen er auch sieht – im Lager und auf den zahlreichen Einsätzen, zu denen er zwischendurch geschickt wird –, so will er immer noch mehr. Sein sehnlichster Wunsch ist es, zu jenen Vögeln zu gelangen, die er an einem See jenseits des Lagerzauns mit seinem Fernglas beobachten kann. Der See aber ist off limits für die Soldaten, die sich nicht frei in der Gegend bewegen dürfen. Im Geheimen schmiedet Paul Pläne, wie es ihm gelingen könnte, unbemerkt die Wachen zu passieren, um sich dem Gewässer nähern zu können. Mit dieser Obsession kommt er in Konflikt mit einem Stubenkameraden, der Pauls illegale Bestrebungen auf keinen Fall decken will.

Versucht man, Scheuers Roman auf diese Weise nachzuerzählen, klingt es sofort irgendwie verkehrt. Denn in den Texten, die Paul – als Ich-Erzähler bzw. Tagebuchschreiber – verfasst, werden all die sich im Laufe der Erzählung ereignenden Dramen und Tragödien des Alltags, die sehr wirkungsvoll erzählt werden könnten, wenn der Autor sie ganz an sich heranließe, gleichsam als lebende Kulisse in den Hintergrund verbannt. Den Bühnenvordergrund aber dominieren die Vögel. Mit hingebungsvoller Akribie beschreibt Paul, welche Art er wo gesehen habe und unter welchen Umständen. Anschließend zeichnet er den Vogelkörper mit zartem Federstrich auf Papier. Dass er am selben Tag die Gedärme eines Sterbenden in dessen noch zuckende Körperhöhle zurückgestopft habe, erwähnt er, sehr sachlich, nebenbei. Paul ist als Sanitäter beim Bund. Zwischen den Berichten von Vogelsichtungen finden kleine Begebenheiten im Lager Erwähnung, die von zunehmender seelischer Desolatheit der Soldaten zeugen. Und immer wieder, und immer deutlicher, scheint das große Trauma auf, das Pauls Leben grundiert – eine tragische Familiengeschichte, in der eine unzuverlässige Mutter, ein depressiver Vater und eine mystische Urururgroßvatergestalt das je Ihre dazu beigetragen haben, Paul in jene Ausnahmesituation zu bringen, in der er, physisch und psychisch, jetzt ist. Doch da es fast die ganze Zeit Paul ist, der schreibend erzählt, kommt diese Geschichte am Ende zwar fast, doch niemals richtig an die Oberfläche. Sie verbleibt in einem narrativen Nebel voller beziehungsreicher Andeutungen, der die Konturen des wirklichen Geschehens nur erahnen und imaginieren lässt.

Diese Beschreibung trifft im Prinzip das erzählerische Grundmuster des gesamten Romans, der nicht nur die Lageraufzeichnungen Pauls enthält, sondern auch ein Seitenthema und eine Rahmenhandlung. Was sich in Pauls afghanischen Vogeltexten so seltsam schwebend über die realen Härten des schwer erträglichen Alltags zu erheben schien, wird durch diese Kontrasthandlungen gleichsam geerdet – und gleichzeitig ergänzt um neue Ebenen der Rätselhaftigkeit. In der Rahmenhandlung trifft die krebskranke Helena, eine in die Jahre gekommene Lehrerin, nach einer ambulanten Chemotherapie im Krankenhaus auf einen ehemaligen Schüler, der erzählt, er habe einen Afghanistan-Kameraden im Krankenhaus besucht, und ihr dessen Aufzeichnungen anvertraut: Pauls Texte, deren Lektüre wir also gleichsam durch die Augen Helenas vornehmen. Auch Paul ist einst Schüler von Helena gewesen. Was Wirklichkeit ist oder nur auf dem Papier passiert, wird durch diese Rahmenhandlung aber nicht eindeutiger. In Helenas Erinnerungen an die Jungen gibt es einen merkwürdigen Hinweis, der Fragen über die Identitäten der jungen Männer aufwirft. Und was soll Helena, was sollen wir, aus der recht spät nachgereichten Information schließen, dass es gar keinen Patienten namens Paul Arimond im Krankenhaus gibt?

Noch merkwürdiger wird das Erzählgefüge durch eine dritte Handlungsebene, das Seitenthema, das den Vögeln ein weiteres Tiersymbol entgegenstellt, kein Wesen der Lüfte zwar, sondern der Erde, doch ebenso ein häufiges Symbol der Freiheit: das Pferd. Pauls Exfreundin Theresa, die Pferdewirtin werden möchte und sich auf dem Weg zu diesem Ziel von den Besitzern eines Pferdehofs unter sklavenähnlichen Bedingungen beschäftigen lässt, ist die Hauptfigur dieses Erzählstrangs. Zwischen die Paul-Kapitel montiert, in denen häufig von Briefen oder Telefonaten mit Theresa die Rede ist, ohne dass Paul wirklich viel von ihr erfahren hätte, könnten die Theresa-Kapitel imaginierte Annäherungen Pauls an das unbekannte Leben der fernen Freundin sein. Dann wäre Paul der Erzähler, der sich die Perspektive der jungen Frau zu eigen macht. Ob es wirklich so ist, wird jedoch nirgendwo im Text explizit gemacht, so dass, rein narrativ, die Theresa-Passagen, ebenso wie die Helena-Passagen, auch ganz vom Erzähler Paul unabhängig, also „real“ sein können.

Gewollte Uneindeutigkeit

Die eingehende Frage nach der Erzählperspektive – bzw. der fiktiven Autorschaft der Pferde-Passagen – ist kein formalistisches Gedankenspiel, sondern stellt sich aus mehreren Gründen; vor allem deshalb, weil Norbert Scheuer mit seiner präzisen, lakonischen Sprachkunst im Prinzip kein Wort zu viel setzt. Gedankenlosigkeit bei der Wahl der Erzählperspektive würde man ihm schlicht nicht zutrauen. Die Uneindeutigkeit muss gewollt sein. Aus ihr erwächst aber zugleich die Unmöglichkeit, die ganze, echte „Wirklichkeit“ hinter den Erzählschichten zu entschlüsseln. Es gibt nicht eine, es gibt hier viele mögliche Welten.

Damit erreicht der Autor eine für ein narratives Werk ungewöhnlich große Offenheit. Der „lector in fabula“, der interpretierende, also das Werk miterschaffende Leser, wie ihn Umberto Eco einst beschrieben hat, bekommt bei Scheuer viel Platz für aktives Fabulieren. Ja, natürlich, das menschliche Leiden, das schlicht Unerträgliche am Dasein, kann schmerzlich erahnt werden; irgendwo dort ist es, in den narrativen Welten zwischen den Worten. Aber richtig zu packen, zu begreifen ist es nicht, ebenso wenig wie das andere Unbegreifliche, über das wie Paul Arimond schreibt: „Irgendetwas existiert im Leben, das mehr ist als wir selbst und für das es keine Sprache gibt.“ Und die ganze Zeit ist Scheuers Prosa dabei so schlicht und schön, so fein und angenehm zu lesen, und ganz merkwürdig schwerelos. Eben auch so eine Art Sprache der Vögel.

■  Norbert Scheuer: „Die Sprache der Vögel“. C. H. Beck, München 2015, 238 Seiten, 19,95 Euro