Der Bewegung folgen

FILMFESTIVAL Bei der Diagonale im österreichischen Graz gedachte man des im letzten Jahr verstorbenen Filmemachers Michael Glawogger

Der Spielfilm-Preis ging mit „Ich seh Ich seh“ von Severin Fiala und Veronika Franz an einen Debütfilm, der in der Konvergenz von Familiendrama und Horrorgenre Haneke’sche Traditionen fortführt

VON SILVIA HALLENSLEBEN

Am 8. November 1978 stieg der österreichische Dichter Christian Ide Hintze in einen Zug der ÖBB und machte sich auf die Reise in mehrere Städte des nordwestlichen Nachbarlandes. Dort wollte er über kleine Flugzettel mit selbstgeschriebenen Gedichten mit den Menschen ins Gespräch kommen. Die verteilte er vor den Fabriktoren von Daimler in Stuttgart, wo Arbeiter und Angestellte wie 1895 im Film der Brüder Lumière minutenlang der Kamera entgegenlaufen. Auf der Straße der damals gerade erst erfundenen Fußgängerzonen. Oder in einem Würzburger Musikklub. Mit der Kamera dabei immer der Multikünstler und Filmemacher Alfred Kaiser, der in den Jahren 1976 und 1977 mit drei genialischen Archiv-Kompilations-Filmen über Nazizeit und Kaiserreich herausgekommen war und „Zetteldämmerung“ kongenial mit erratisch vagabundierender Kamera und konzeptuellen Unschärfen als schwarz-weißes Filmgedicht gestaltet.

Danach gab der 1994 verstorbene Alfred Kaiser – zermürbt von den Fördergremien – das Filmemachen wieder auf. Jetzt war sein schmales, aber aufsehenerregendes Werk in restaurierten Fassungen in einer Retrospektive des Österreichischen Filmmuseums auf der Diagonale in Graz zu sehen. Und „Zetteldämmerung“ faszinierte im Außenblick auf bundesrepublikanischen Alltag auch als ausführliches audiovisuelles Dokument einer Zeit, in der sich sentimentale Alt-Nazi-Anwandlungen mit den Spätfolgen der bleiernen Jahre mischen.

Ein – bis auf die gezielte Verabreichung von Lyrik – ganz ähnliches Konzept hatte der Filmemacher Michael Glawogger, als er im Dezember 2013 mit Attila Boa (Kamera) und Manuel Siebert (Ton) über den Balkan und Afrika zu einer einjährigen Weltreise aufbrach, mit der klaren Absicht, sich von „nichts als der eigenen Intuition und Neugier“ treiben zu lassen. Auch der daraus geplante Film (Arbeitstitel „Film ohne Namen“) sollte ganz ohne Interviews und Drehbuch diesem Prinzip der Serendipität folgen: Ein mit vielen Hoffnungen auch für die zukünftige Arbeit gefülltes großes Projekt, das aber – zumindest in dieser Form – nie Wirklichkeit wurde, weil Glawogger vier Monate nach Reiseantritt am 23. April letzten Jahres in Liberia an Malaria starb.

70 Stunden Material

Ein Schock nicht nur für die österreichische Filmwelt, die jetzt bei einer sehr persönlich gehaltenen Gedenkveranstaltung des Grazer Festivals für den ebendort geborenen und aufgewachsenen Filmemacher mit vielen alten und späteren Freunden und Weggefährten antrat. Neben Erzählungen des alten Kinderfreundes David Marian und frühen Arbeiten aus Studienzeiten in San Francisco und Wien wurde dabei erstmals – mit Bildern von senegalesischen Ringern und einer langen Fahrt durch exjugoslawische Ziegelrohbauten – ein fragmentarischer 15-minütiger Einblick in den „Film ohne Namen“ gewährt.

Aus insgesamt 70 Stunden gedrehten Materials ausgesucht und zu Musik von Wolfgang Mitterer und einem Text von Michael T. Vollmann montiert hatte es Cutterin Mona Willi, die so unversehens zur Ersatzregisseurin wurde. Ein Extremfall von Kooperation, der sich auch im engen Arbeitsverhältnis des Dokumentaristen Nikolaus Geyrhalter und seines Editors Wolfgang Widerhofer wiederfindet, die bei einem ausführlichen Werkstattgespräch anlässlich einer Diagonale-„Personale“ für Geyrhalter gemeinsam auf dem Podium saßen. Wie Willi ist auch Widerhofer schon während der Drehreisen des Teams im Schnittraum daheim als Erster für die inhaltliche und formale Konzeption des entstehenden Films verantwortlich.

Da passte gut, dass im Bereich Dokumentarfilm sowohl der Preis für den besten Film wie der für den Schnitt an Geyrhalters jüngste großartige Langzeit-Dokumentation „Über die Jahre“ ging. Besonders schön aber, dass auch die in der Personale vorgestellten sechs älteren Arbeiten des Filmemachers aus den letzten zwanzig Jahren von einem begeisterten jungen Publikum neu entdeckt wurden. Es sind genau solche Möglichkeitmomente jenseits des normalen Kinoalltags, auf die die scheidende Festivalleiterin Barbara Pichler in ihrem gezielt polyphonen (keinesfalls beliebigen) Konzept der Präsentation österreichischen Filmschaffens setzt. Dabei geht das Spektrum von Karl Marcovics’ „Superwelt“ als Eröffnungsfilm über den experimentellen Kurzfilm bis zu Kassenschlagern wie Murnbergers „Das ewige Leben“.

Der Spielfilm-Preis ging mit „Ich seh Ich seh“ von Severin Fiala und Veronika Franz an einen Debütfilm, der in der Konvergenz von Familiendrama und Horrorgenre Haneke’sche Traditionen fortführt. Barbara Pichler, die der Diagonale sieben Jahre lang ein prägnantes Gesicht gegeben hat, hat ihren Vertrag auf eigenen Wunsch nicht verlängert. Ein Festival brauche Bewegung, meint sie und möge damit vielleicht auch anderswo Gehör finden. Die Nachfolge in Graz werden mit Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber die bisherigen Macher des Nachwuchs-Festivals „Youki“ in Wels antreten, die auch im bisherigen Diagonale-Team tätig waren.