Ohne Superhelden geht’s nicht

GRAPHIC NOVEL Zwiespältig: Scott McClouds „Bildhauer“ ist zeichnerisch elegant entwickelt, aber auf Dauer spannungsarm – in seiner Gesellschaftsbeschreibung bleibt der US-amerikanische Comicstar oberflächlich

Es scheint, als habe McCloud ab einem gewissen Punkt den Ehrgeiz entwickelt, die perfekte Filmvorlage für einen Hollywoodfilm zu liefern

VON RALPH TROMMER

David Smith ist ein erfolgloser junger Künstler aus New York. In einer Lebenskrise trifft er nach langer Zeit seinen alten Onkel Harry wieder, dem er anvertraut, dass er „sein Leben für die Kunst geben würde“. Etwas spät wird ihm bewusst, dass sein Onkel schon vor Jahren gestorben ist. Dieser Onkel Harry ist der Tod in Person, und er bietet David einen Handel an – für den Preis seines Lebens soll David 200 Tage lang eine Gabe erhalten, die seinen Traum nach Anerkennung als Künstler wahr macht.

Faustischer Pakt

Der Pakt mit dem Teufel ist spätestens seit Goethes „Faust“-Tragödie ein beliebtes Motiv in Literatur und Kunst. Nun variiert es der 1960 geborene US-amerikanische Comiczeichner Scott McCloud für seine Graphic Novel „Der Bildhauer“, die mit 500 Seiten Umfang wie auch in ihrer komplexen narrativen Anlage wahrlich einem Roman entspricht – umgesetzt mit den Mitteln des Comics.

Scott McCloud begann seine Karriere in den achtziger Jahren mit den Independent-Comicreihen „Zot“ und „Destroy!“, die amerikanische Superhelden-Mythen parodierten. Früh interessierte sich McCloud für die Möglichkeiten des World Wide Web und erfand den 24-Stunden-Comic (24 Seiten werden innerhalb von 24 Stunden gezeichnet).

Berühmt wurde er aber durch seine drei Bücher über Comics. Mit „Comics richtig lesen“ von 1993 (neben „Comics neu erfinden“ und „Comics machen“) schuf er ein bis heute gültiges Standardwerk, in dem er die Kunstform in bislang ungekannter Gründlichkeit analysierte, und das in Form unterhaltsamer Zeichnungen. Seitdem hat Scott McCloud nur noch wenige zeichnerische Werke veröffentlicht und lehrt vor allem als Dozent für Comics an amerikanischen Universitäten. Bei seiner Europa-Tournee besuchte Scott McCloud zusammen mit seiner Frau Ivy Ratafia im Frühjahr Berlin, wo er auch seine nun auf Deutsch als Buch erschienene erste Graphic Novel vorstellte. „Nach den theoretischen Comics“, sagte er in Bezug auf diesen Band im Gespräch mit der taz, „wollte ich endlich wieder eine richtige Geschichte zeichnen. Ich stand unter großem Druck, all den Kriterien gerecht zu werden, die ich zuvor beschrieben und analysiert hatte.“

McCloud griff dafür auf eine alte Idee zurück: „Seit fast 30 Jahren hatte ich die autobiografische Geschichte im Kopf. Mit Anfang zwanzig fühlte ich mich oft einsam und verloren, hatte kaum Freunde und suchte nach Anerkennung als Comiczeichner – so wie die Figur David in meinem Comic als Bildhauer.“ Die Liebesbeziehung Davids zur Comicfigur Meg würde tatsächlich sehr der Beziehung zu seiner Frau Ivy ähneln, in die er damals verliebt war – wegen seiner Schüchternheit gestand er ihr dies allerdings erst nach sieben Jahren. „Ich habe Meg mit ihren Zügen ausgestattet.“

Auch deren jahrelanger Kampf gegen Depressionen wird in der Graphic Novel thematisiert. Meg erscheint David eines Tages in einem besonders düsteren Moment als vom Himmel herabschwebender Engel, der ihm zuhaucht: „Alles wird gut.“

Dieser knapp am Kitsch vorbeischrammende Einfall gehört zu den vielen erzählerischen Raffinessen, die Scott McCloud im ersten Drittel des Buches aufbietet. Auch die psychologisch fein ausgestalteten Dialogszenen zwischen David und dem dämonischen und zugleich väterlich-sympathischen Onkel Harry sind Höhepunkte. McCloud reizt die visuellen Möglichkeiten des Comics aus, gestaltet mit viel Fantasie das Seitenlayout, sodass häufig Sequenzen entstehen, die wie ein Kinofilm geschnitten sind. Und er kreiert eine „Audiospur“: Auf der Straße nimmt David das vielfältige Stimmengewirr wahr, hört einzelne Dialogfetzen heraus, in der U-Bahn wiederum verstärkt das Rattern der Metro ein Gefühl der Angst und Bedrohung.

Grafisch hat sich Scott McCloud gegenüber früheren Arbeiten deutlich weiterentwickelt, die blau unterlegten Schwarz-Weiß-Bilder sind makellos in einer Art US-Version der von Hergé geprägten Ligne claire (klare Linie) gezeichnet und geben nebenbei ein detailreiches Bild von New York ab. Die elegant hingetuscht wirkenden Bilder sind jedoch digital entstanden. „Ich zeichnete ausschließlich am Grafik-Tablet. Ich versuchte einen Lesefluss zu entwickeln, wie es ihn nur im Webcomic gibt.“

Nach dem furiosen Auftakt lässt die sorgsam aufgebaute Spannung jedoch spürbar nach. McCloud widmet sich einem kritischen Porträt der New Yorker Kunstszene, bleibt aber oberflächlich. Auch die Liebesgeschichte, die zu Beginn anrührt, verliert sich zunehmend in Banalitäten. McCloud greift zu oft auf filmische Erzählmittel zurück – es scheint so, als habe er ab einem gewissen Punkt den Ehrgeiz entwickelt, die perfekte Filmvorlage für einen Hollywoodfilm zu liefern. Er überfrachtet seine Geschichte mit zu vielen Nebenthemen wie Familie, Freundschaft oder Depression und vernachlässigt das Motiv des faustischen Pakts. Der Einfall, David eine wundersame Gabe zu verleihen, um seine Sehnsucht nach künstlerischer Anerkennung zu verwirklichen, ist schon an sich schief. Handelt es sich um Kunst, wenn ein Künstler sie nur mithilfe von Superkräften erschaffen kann?

Honoré de Balzac hatte etwa 1831 in seiner Erzählung „Das unbekannte Meisterwerk“ eine detaillierte Beschreibung des geheimnisumwölkten Gemäldes vermieden und Raum für Fantasie gelassen – hier bleibt Derartiges aus. Der bombastische Charakter von Davids Skulpturen könnte aber der Grund dafür sein, dass sich schon Filmproduzenten die Rechte am „Bildhauer“ gesichert haben.

Während die Graphic Novel zu Beginn als authentische Künstlernovelle mit dezent eingesetzten fantastischen Elementen überzeugt, gerät sie am Ende zur Künstler-Allmachtsfantasie. Wie in seinen frühen Werken scheint Scott McCloud nicht ohne Superhelden auszukommen.

■ Scott McCloud: „Der Bildhauer“. Carlsen Verlag, 496 Seiten, Hardcover, 34,99 Euro