Avantgarde-Musik von Elliott Sharp: Die Vibes stimmen

Der New Yorker Multiinstrumentalist Elliott Sharp kommt von Jazz und Blues. Nun hat der Künstler eine Oper über Walter Benjamin komponiert.

Beim Zum-Klingen-Bringen: Elliott Sharp. Bild: Miguel Lopes

Auf einem Schutthaufen am Straßenrand oder unter Dutzenden Exemplaren im Baumarkt wäre sie leicht zu übersehen. Im Handteller von Elliott Sharp nimmt diese unscheinbare braune Kachel eine völlig andere Gestalt an – sie wird zum Auslöser von Klang. Seine Fingerkuppen scheinen das bloße Material zu öffnen, bereits die Berührung lässt vorstellbare Töne erklingen.

Jede ihrer Ecken habe eine eine andere Textur, erzählt Sharp fasziniert. Bis in solche winzigen Details macht sich der New Yorker Multiinstrumentalist und Komponist verschiedene Oberflächen zunutze, um die Saite eines Instruments in Schwingung zu versetzen. Deshalb zählt er die Kachel ganz selbstverständlich zu seinen Bögen, von denen er eine Auswahl mit nach Berlin gebracht hat. Seit Januar ist Sharp Stipendiat der American Academy in Berlin und genießt die Ruhe und Konzentration in einem der Gästehäuser am Wannsee mit seiner Frau, der Videokünstlerin Janene Higgins, und ihren beiden Kindern.

In dem großzügigen Wohnzimmer lenken eine Sprungfeder und das Stück eines metallenen Leitungsrohrs umso mehr die Aufmerksamkeit auf sich. Letzteres hat Sharp auf einer Seite poliert, auf der anderen mit Schlitzen in unregelmäßigen Abständen versehen, um eine ebensolche Vibration der Gitarrensaiten zu erzeugen.

Außerdem nutzt er Slides, fingerlange Metallröhrchen, denn im Blues ist er ebenso zu Hause wie in improvisierter und durchkomponierter Musik. Mit zwei angefeuchteten Fingern reibt er über den Korpus der Gitarre und ein Akkord erklingt, mit dreien eine Harmonie. „Dieser Klang ist nicht anders herzustellen“, meint Sharp.

In dieser schlichten Feststellung liegt die Keimzelle seines musikalischen Wirkens. Die Frage danach, wie er die Klänge, denen er lauscht oder welche seinem inneren Ohr vorschweben, in reale Schallereignisse übertragen kann, bestimmt seine Entscheidung für ein gegebenes Instrument oder eines, dessen Möglichkeiten er durch Umbauten erweitert oder gar neu erfindet. Für die „Pantar“ versah er einen aufgefundenen Metalldeckel mit den Hälsen weggeworfener Gitarren, Tonabnehmern und Saiten. Gegebene Instrumente hat er nicht einfach studiert, sondern durchdrungen.

Verborgene Potenziale

„Ich habe Saxofon gelernt, weil ich die Musik von John Coltrane, Anthony Braxton und Ornette Coleman aus dem Instrument hören wollte, in das ich ein- und ausatme. Ich habe dem Bluesmusiker Robert Johnson nachgespürt, wie er einen Country-Blues auf seiner Gitarre spielte und wie ich den Klang von Jimi Hendrix erreiche. Und mir dann die Bandbreite an Gitarrenliteratur im Jazz erschlossen“, beschreibt Sharp seinen Prozess.

„Bei der Arbeit mit einem Instrument entstehen Rückkopplungen und du entdeckst seine verborgenen Potenziale. Sie bringen dich darauf, zu überlegen, wie du eine Ordnung mit ihnen herstellen kannst. Solange deine Lösung in sich konsistent ist, eine Architektur aufweist und einen Grund hat, da zu sein, schaffst du ein musikalisches Werk“, ist Sharp überzeugt.

Im Auffinden und der Wahl der richtigen Mittel, ihrer anschließenden Zusammensetzung und Schichtung ist Elliott Sharp ein außergewöhnlich bewanderter Künstler, dessen kreative Ressourcen nie zu versiegen scheinen. Improvisieren und Musik am Computer notieren liebt er aus dem gleichen Grund: Sein Denken bringt augenblicklich Klänge hervor, sei es auf der elektrischen Gitarre oder mit einem grafischen Programm, das er zugeschnitten hat auf seine Bedürfnisse.

Gelungene Übersetzung

Sharp versteht sich als Übersetzer schöpferischer Impulse. Jeder von ihnen müsse den passenden Modus finden, sich zu manifestieren – sei es mit einem Soloinstrument, einer Partitur, einer grafischen Notation oder einer konzeptuellen Anleitung. Wenn dann ein Orchester, ein Streichquartett oder ein Trio aus E-Gitarre, Bass und Schlagzeug Sharps Stücke zu Gehör bringt, ist die Übersetzung gelungen.

Prägend für die Auffassung seines Tuns war und ist das Essay „Die Aufgabe des Übersetzers“ von Walter Benjamin. Demnach gibt Sharp nicht einfach innere Klänge wieder, sondern lässt sie wachsen, den Kompositionsprozess in Gang setzen und die Instrumentierung bestimmen. Benjamins Essay ist eingeflossen in Sharps Oper über die letzten Stunden des Philosophen, der auf der Flucht vor den Nazis 1940 im spanisch-französischen Grenzort Portbou Selbstmord beging.

Für das seit Jahren gehegte und letzten Oktober in New York City uraufgeführte Projekt spielte Sharp elektroakustische Sounds ein und wählte die Besetzung mit dem Bassbariton Nicholas Isherwood, der Pianistin Jenny Lin und dem Akkordeonisten William Schimmel; Janene Higgins’ Videoprojektionen rahmen das Geschehen von „Port Bou“. Am 25. April wird die Oper in Berlin aufgeführt.

Deutsche Erstaufführung der Oper „Port Bou“ von Elliott Sharp am 25. April im Konzerthaus Berlin.

Bis Ende Mai arbeitet er im Rahmen des Stipendienaufenthalts an einer neuen Oper über den Philosophen Baruch de Spinoza. „Er war der Ansicht, alles Seiende ließe sich auf den Begriff der Substanz zurückführen, weshalb ich die Oper auch so nenne“, so Sharp. „Wir können unter der Substanz, wie Spinoza, Gott verstehen, worauf unser Begriff von physikalischer Materie beruht. Mich interessiert diese Auffassung, wonach alles in allem widerhallt und nicht nach einem höheren Plan Gottes abläuft und welche Rolle die Vorstellungskraft dabei spielt.“

Der niederländische Philosoph sephardischer Abstammung wurde aufgrund seiner Thesen 1656 aus der jüdischen Gemeinde ausgeschlossen und mit einem Bann belegt, der bis heute formal gültig ist. „In der jüdischen Sonntagsschule hörte ich als Kind den Rabbi von Spinoza als einem Ketzer sprechen, dessen Ideen dem Judentum schadeten. Für mich aber machten sie Sinn, auch wenn ich noch Angst hatte, zuzugeben, Atheist zu sein. Agnostiker, ja, das war ich bereits.“

Sinn für Gerechtigkeit

Sharps Eltern waren nicht religiös oder gar orthodox. Sein Vater wurde 1921 in Cleveland geboren, nachdem die Familie 1905 vor den Pogromen gegen Juden in der Region um die ukrainische Stadt Odessa in die USA geflüchtet war. Die Familie von Sharps Mutter war 1917 vor Pogromen in der gleichen Gegend über Berlin nach Frankreich geflüchtet, wo sie zur Welt kam.

Ihr Vater wurde nach der deutschen Besetzung Frankreichs im französischen „Sammellager“ Drancy gefangen gehalten und im Januar 1945 in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Sharps Mutter wurde, gemeinsam mit ihrer, von französischen Bauern in der Nähe von Pont-à-Mousson in Lothringen versteckt, auch ihre drei Geschwister überlebten so den Holocaust.

„Sie sprachen über ihre Erlebnisse, wann immer sie sich trafen“, erinnert sich Sharp. „Mein Großvater hatte die KZ-Nummer auf den Arm tätowiert. Der Gedanke, immer eine Fluchtmöglichkeit zu haben, wenn die Verhältnisse bedrohlich werden, wie bei Bushs Irak-Invasion 2003 beispielsweise, begleitet mich seit jeher. Und ein gesteigertes Beschützerverhalten. Mein ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit hat ebenfalls mit meiner Herkunft zu tun.“

Aus diesem Grund sympathisierte Sharp bereits als Jugendlicher in den sechziger Jahren mit dem Civil Rights Movement. Aus dem gleichen Grund wendete er sich von der Anfang der Neunziger vom Avantgardemusiker und Komponisten John Zorn ausgerufenen „Radical Jewish Culture“, wieder ab.

Reaktionärer Zionismus

Auf Zorns Label Tzadik, benannt nach der Figur des Wundertätigen mit übermenschlichen Fähigkeiten in der jüdischen Tradition, hatte Sharp einige Alben veröffentlicht. „Ich machte ein Stück namens ’Intifada‘ und bekam Morddrohungen. Spätestens da erkannte ich, dass die Bewegung der ’radikalen jüdischen Kultur‘ nur ein anderer Ausdruck für reaktionären Zionismus bedeutete. Ich wollte kein Teil davon sein.“

In „Substance“ werden Texte in einer Reihe von Sprachen erklingen. Neben Englisch, Portugiesisch, Latein, Spanisch, Italienisch und Französisch auch Ladino, das Judenspanisch der Sepharden.

„Wahrscheinlich wird Spinoza auf Niederländisch sprechen und auf Ladino singen“, verrät Sharp. „Beim mehrstimmigen sephardischen Gesang entstehen viele wunderschöne Effekte, wenn sich die nahen Töne verzahnen. Die anderen Sprachen geben dem Ganzen eine Würze, die den Hörern die Annehmlichkeit nimmt, immer um jede Bedeutung zu wissen.“

Wenn Sharp daheim in der Lower East Side das Jiddisch, das seine Eltern sprachen, hören und nebenbei köstlichen Kuchen und Brot erstehen möchte, geht er zur koscheren Bäckerei in seiner Nachbarschaft. „Die Gespräche dort laufen ab wie in einem Comic von Harvey Pekar – sehr komisch und ironisch, mitunter boshaft. Einer der Mitarbeiter ist auch Kantor und singt die jüdischen religiösen Lieder Niggun. Wir unterhalten uns gut über Musik.“ Es sind eben nicht nur Gegenstände, die wie von selbst zu Elliott Sharp finden, es sind auch die Laute.

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