Heideggers „Schwarze Hefte“: Die Geste und der Schmutz

Warum sollte die Philosophie vom größten Horror des 20. Jahrhunderts unberührt geblieben sein? Ein Beitrag zur Debatte.

Todtnauberg: Der Heidegger Rundweg führt einmal quer durch den Nationalsozialismus. Bild: dpa

Als die Titanic 2007 auf ihre Titelseite schrieb: „Schrecklicher Verdacht: War Hitler Antisemit?“, konnte man noch gut lachen. In der gegenwärtigen Aufregung um den nun endlich schwarz auf weiß hingeschriebenen Antisemitismus Martin Heideggers hingegen ist der Witz etwas schwieriger zu finden.

Denn natürlich ist schon seit Längerem bekannt, dass Heidegger auch ein Antisemit war. Heidegger war Nazi und kein kleiner. Neben seiner oft genug gedruckten Freiburger Antrittsrede als erster deutscher „Führerrektor“ hatte er auch detaillierte Pläne ausgearbeitet, wie der „Wissensdienst“ in der Philosophie mit ihm als Führer im neuen Deutschland zu organisieren sei.

Dass dann in der Folge die sogenannten „Intellektuellen“ der SS ziemlich schnell keine Lust mehr hatten, sich von Heidegger erklären zu lassen, wie das Denken geht, genauso wenig wie sie Lust hatten, sich von Gottfried Benn erklären zu lassen was Dichtung oder von Carl Schmitt was Recht ist, entlastet niemanden. Es ist nämlich so, dass die Kategorie „jüdisch“ oder „der Jude“ ein genuines Element der Nazipolitik war.

Die Einzigartigkeit und der zeitweilige immense Erfolg der Nazipolitik beruhten darauf, mit dieser Kategorie als „außen“, mit der man „innen“ sehr gut hetzen konnte, sehr präzise eine geschichtliche „Gemeinschaft“ herstellen zu können, die dann in ihren Eroberungen die halbe Welt in Schutt und Asche legte. Es ist diese bezeichnende Kategorie, die den Sieg der Nazis ermöglicht und die Vernichtung auf die Tagesordnung gesetzt hat.

Die Kategorie „Jude“

Das heißt: Niemand konnte Nazi sein, ohne Antisemit zu sein, weil die Verkettung von Nazismus und Antisemitismus fundamental war. Deshalb ist es schlicht obszön, jetzt in liberal sich gebenden Magazinen einen Satz lesen zu müssen, in dem es heißt, die „Schwarzen Hefte“ belegten bei Heidegger einen „Antisemitismus über das bisher bekannte Maß hinaus“. Allerdings ist es im Sinne eines alten Liberalismus „bedenklich“, dass der aktuelle Liberalismus von dieser ausgesprochenen Verkettung in Heideggers Heften, die nach seiner Rektoratszeit in den Jahren 1942 bis 1948 geschrieben wurden, in diesem „Maße“ überrascht werden konnte.

Deshalb ist es verdienstvoll und richtig, wenn Emmanuel Faye lange vor der Veröffentlichung der „Schwarzen Hefte“ von Heidegger als der „Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie“ gesprochen hat. Verdienstvoll ist Fayes Kennzeichnung von Heidegger=Nationalsozialismus, weil sie geschichtlich von wünschenswerter Klarheit ist.

Problematisch sind nur der Zeitpunkt, der Ort und die politisch sehr genaue Ausrichtung Fayes auf die Neuordnung des Philosophieunterrichts an französischen Gymnasien und Universitäten unter dem Verdikt, Heideggers Denken sei gleich dem Nationalsozialismus. Denn die französischen Debatten und Diskussionen über Heidegger und sein Denken bewegen sich von Anfang an auf einem Niveau, das Lichtjahre von den deutschen Auseinandersetzungen entfernt ist.

Keine Reue, kein Bedauern

Bereits in den Jahren 1946/47 gab es in Frankreich eine erste Heidegger-Debatte, die keine der Fragen unberührt und unbeantwortet ließ, die heute wieder gestellt werden. Mit Jean-Paul Sartre, Maurice de Gandillac, Frédéric de Towarnicki, Karl Löwith, Eric Weil und Alexandre Koyré hatten sich Philosophen aus allen Lagern an der Diskussion beteiligt.

Damals war es Eric Weil, der den entschiedensten Standpunkt gegen Heidegger eingenommen hatte, indem er auf den fundamentalen Zusammenhang von dessen Nazitum und Denken verwies. Auch machten sich Befürworter Heideggers wie Sartre überhaupt keine Illusionen über seinen Charakter. „Keine Reue, kein Bedauern, keine Selbstkritik“, fasste Élisabeth Roudinesco in ihrer großartigen Lacan-Biografie 1993 Heideggers Haltung nach dem Krieg knapp zusammen. Roudinesco kann am Beispiel Lacans aber auch sehr genau zeigen, dass der Heidegger der Franzosen ein anderer war als der miese kleine Antisemit der „Schwarzen Hefte“.

Die Franzosen bedienten sich Heideggers Denken vor allem, um aus ihrem chauvinistischen Gewächshaus der akademischen Philosophie auszubrechen. Nur so ist zum Beispiel auch zu verstehen, dass Louis Althusser noch als alter kranker Mann in psychiatrischer Obhut bejubeln konnte, dass Heidegger in den 1950er Jahren endlich das „Bürgerrecht“ in der französischen Philosophie erhalten hatte. Ermöglicht wurde diese emphatische Aufnahme von Heideggers Denken bei allem Wissen um Heideggers Person auch dadurch, dass einige der ersten seiner Multiplikatoren unverdächtig waren.

Denn so unterschiedlich das Denken von Jean Cavaillès, Alexandre Kojève, Jean Beaufret und René Char auch war, was sie alle einte, war, dass sie Aktivisten der Résistance waren. Und kaum jemand hatte in Frankreich dabei übersehen, dass Heideggers Arbeiten nach dem Krieg eine Fortsetzung seines Ultrakonservativismus aus der Weimarer Zeit war, gepaart mit einer sehr ausgeprägten Feindseligkeit gegenüber der westlichen Demokratie sowie dem Kommunismus. Kurz: All das, was jetzt auch in den „Schwarzen Heften“ steht.

Die Geste des Denkens

Und hier wird es jetzt tatsächlich schwierig, denn was die meisten Franzosen von Kojève über Foucault bis Deleuze und Derrida von Heidegger übernahmen, war nicht der Inhalt und die Schlussfolgerungen, sondern die Geste des Denkens, die Pierre Bourdieu in einem der besten Heidegger-Bücher überhaupt, „Die politische Ontologie Martin Heideggers“, 1976 auf Deutsch erschienen, beschrieben hat.

„Das gesamte philosophische Unternehmen Heideggers“, schrieb Bourdieu, „kann verstanden werden als ein (philosophisch) revolutionärer Gewaltstreich mit dem Ziel, innerhalb des Feldes der Philosophie eine neue Position zum Tragen zu bringen, die bislang in der […] universitär anerkannten philosophischen Diskussion fehlte und – wie die Lektüre Nietzsches, einer der zentralen Markierungspunkte – den politischen oder literarischen Zirkeln (so dem George-Kreis) oder kleinen Gruppen von Studenten und Assistenten überlassen worden war“. Seine Methode bestand dabei darin, „die von allen gekannten Texte anders zu bedenken und darin anderes zu denken“.

Heidegger betrieb, kurz gesagt, einen philosophischen Aktivismus, der den akademischen Rahmen sprengte und ins Leben drängte. Er machte, mit anderen Worten, die Philosophie unrein, dreckig. Und, so kann man Faye fragen, wieso soll ausgerechnet die Philosophie vom größten Horror des 20. Jahrhunderts, von der industriellen Massenvernichtung der Juden, unberührt geblieben sein bzw. gereinigt werden?

Wäre es nicht vielmehr Aufgabe der Philosophie, sich diesem Horror zu stellen, der in der Philosophie Heideggers von seinen ersten Ressentiments als katholischer Kleinbürger gegen das Judentum und das protestantisch-liberale Universitätsestablishment bis über die naturverblendete Jugendbewegung und dann den endgültigen Massenwahn der Nazis sozusagen in Echtzeit dokumentiert ist?

Reinigung der Philosophie

Alain Badiou hat denn auch in einem offenen Brief im Blog Strass de la philosophie im April 2014 Faye und dessen Tendenz zur Reinigung der Philosophie von ihren schmutzigen Momenten und Elementen angegriffen. „Nieder mit den kleinen Meistern der Reinigung der Philosophie“, lautet sein gewohnt militanter letzter Satz.

Und hierzulande haben Jürgen Kaube in der FAZ und Markus Gabriel in der Süddeutschen Zeitung am Beispiel der Umfunktionierung von Heideggers Freiburger Lehrstuhl in eine Juniorprofessur für analytische Philosophie die Erfahrung gemacht, dass es ganz konkret in der ganzen Aufregung dann doch um etwas anderes geht als Heideggers widerlich-vermuffte Kleinbürger-Hefte.

Vergangenen Herbst wurde mit der Veröffentlichung der „Schwarzen Hefte", der persönlichen Aufzeichnungen Martin Heideggers, eine neue Debatte über dessen Antisemitismus und Verstrickung in die NS-Ideologie ausgelöst. Nun ist Band 97 der Gesamtausgabe (Verlag Vittorio Klostermann) mit Heideggers „Anmerkungen" aus den Jahren 1942 bis 1948 erschienen, und einige Kommentatoren wie auch der Verlag stellen die Frage, weshalb derart eindeutige Aussagen, Heideggers Verhältnis zum Nationalsozialismus betreffend, erst jetzt gefunden werden. Der Publizist Micha Brumlik hat an dieser Stelle Heideggers Demokratiefeindlichkeit herausgearbeitet, und die Wissenschaftler Sidonie Kellerer, François Rastier und Emmanuel Faye haben Heideggers Kommentierungen der Konzentrationslager analysiert.

Es geht um die endgültige Verödung der Philosophie in ungeschichtlicher akademischer Weißwäscherei, die allerdings hervorragend in die Geschichtslosigkeit der Gegenwart passt.

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