Bei den armen, armen Reichen

PREMIERE Alize Zandwijk lässt mit Arne Sierens Komödie „Mädchen und Jungen“ am Goetheplatz eine Industriellenfamilie baden gehen – in katastrophischem Reichtum

Robin Sondermann prügelt auf ihn los, mit dem Softball, immer schneller, immer schneller. Und dann ist’s wieder aus

VON BENNO SCHIRRMEISTER

Funkelnd boshaft, genüsslich die Leerläufe des Stücks auskostend und mit einem Ensemble, das vor Spiellust nur so strotzt, hat Alize Zandwijk am großen Haus „Mädchen und Jungen“ inszeniert. Das ist eine von ihr mitentwickelte, 2005 in Rotterdam uraufgeführte krachende Satire des belgischen Autors Arne Sierens. Der zählt seit den 1990er-Jahren zu den erfolgreichsten Dramatikern der niederländischsprachigen Bühnenwelt.

Ein Sierens-Stück nach zehn Jahren noch mal aufzuführen, ist nicht ohne Risiko: Zu den besonderen Qualitäten seiner Arbeiten gehört ja, dass er die Stücke mit den Ensembles, die sie aufführen, entwickelt. Und dass er sich dabei als „Erforscher des Jetzt“ versteht. Diesen naturalistischen Blick verbindet er mit einer Form, die eher aus der Sphäre des Rituals stammt, der höchstens sakral zu begründenden Bewegung – vielleicht könnte sie auch Tanz heißen. Und diese Verschmelzung von Zeitstück und Mysterienspiel macht Sierens zu einem Bühnenerneuerer von internationalem Format. Oder: „L’un des hommes du théâtre européen“, um es mit dem Kritiker von Le Figaro zu sagen, „einer der europäischen Theatermenschen“ also, „der am besten das Elend der Welt versteht und vermittelt – ohne Belehrungen und politische Botschaften, allein durch eine szenische Handschrift“. Schade, dass man ihn so selten in Deutschland spielt.

Und: super, dass es in Bremen jetzt doch mal wieder klappt – dank Intendant Michael Börgerdings Batavophilie, vielleicht, vor allem dank Zandwijk. Das Stück habe sie ausgewählt, weil sie „unbedingt mit dem Bremer Schauspielensemble arbeiten“ wollte, sagt sie, aber im Grunde – das klingt ein wenig ernüchternd – keine Zeit hatte fürs Proben, „eigentlich nur fünfeinhalb Wochen“.

Das klingt ernüchternd, beweist aber, dass Zandwijk offenbar die richtigen Stücke kennt – und fast blind aussucht. Denn natürlich gibt es gute inhaltliche Gründe, diese Reichtumsfarce in einer Stadt mit so hoher Millionärsdichte wie Bremen aufzuführen. Und auch sonst ist Zandwijk ein Glücksfall für Bremen: Am Ro-Theater Rotterdam, das sie seit 2006 leitet, hört sie demnächst auf – und übernimmt dafür ab 2016 am Goetheplatz die Funktion der Leitenden Regisseurin. Und dass es zwischen ihr und dem Schauspiel-Ensemble funktioniert, das merkt man der Inszenierung an: Sie entfalten unter ihrer Führung einfach – mehr Freude, mehr Witz, mehr Intelligenz, gerade als die sich im Reichtum so selbstgewiss gerierende Familie des Industriellen Philip, der in der Bremer Fassung Lürßen heißt, und Strumpffabrikant ist.

Die Szene ist auf dessen luxuriösem Anwesen im flirrenden Stillstand eines Hochsommertags. Es treten auf, autonom geworden: die Phobien, die Ängste und die Aggressionen dieser armen Reichen. Immer mal wieder springt Robin Sondermann, der den Stammhalter Gregor gibt, seinen kleinen Bruder an. Anthony wird der gerufen, und Vincent Heppner balanciert den verschlossenen Jungmann exakt auf der Schwelle zwischen debil und introvertiertem Genie. Er steht da – und Sondermann, fängt einfach an, auf ihn einzuprügeln, mit einem Softball, immer schneller, immer schneller, er tunkt ihn in den Pool, tunkt ihn, tunkt ihn, tunkt ihn. Und dann ist es wieder aus. Anton sagt nichts. Johannes Kühn als Gregors Freund und Bewunderer Bertrand, der eigentlich nicht in diese Kreise gehört, schaut einen Moment verdutzt. Aber es ist nichts geschehen.

Es geschieht ja ohnehin nichts: Die Jeunesse dorée sitzt, verborgen von der riesigen Koniferen-Hecke, die Ausstatter Thomas Ruppert hochgezogen hat, am Pool, die Jungs scheitern beim Vokabellernen. Die Mädchen, Lisa Guth und Nadine Geyersbach, Tania und Lieske, schleichen sich an, Kommilitoninnen, man flirtet. Man badet. Shorts fliegen. Man ist dann aber doch verklemmt. Es geschieht nichts. Und dass Martin Baum, also Vater Philip, sich bei Tanja insgeheim schon lange das an Lust holt, was er beim Geschlechtsakt mit Gattin Tily, der Susanne Schrader das Format einer Thomas-Bernhard-Mutter verleiht, nicht erlebt, versteht sich von selbst: möglich, dass sie schwanger ist.

Es geschieht nichts: Und das ist schreiend komisch und tieftraurig, auch wenn Zandwijk dem Stück mehr Straffung hätte zumuten dürfen. Die meisten Soli funktionieren höchstens als Bravourstückchen, scheitern aber dabei, im Leerlauf doch noch so etwas wie Sinnsuche zu behaupten: Die kann es nicht geben. Die ist vorbei. Denn weil er die dollsten Arschbomben in den Pool springt, nennen Freunde den Gregor auch Hiroshima, verrät er. Damit ist alles gesagt: Sinn ist kein denkbares Konzept, wo die Katastrophe kein Ereignis, sondern nurmehr amüsanter Zustand ist, der, wie der Reichtum, alles Menschsein überformt. Es bleibt nichts zu erzählen. Vielleicht kann man Sirtaki tanzen.

Nächste Aufführungen: 25. 4. sowie 28. 5. und 30. 5., jeweils 19.30 Uhr, und am 17. 5., 18 Uhr, Großes Haus