Das Kalkül stört

CANNES CANNES 4 László Nemes zeigt ein Reenactment der Arbeit des Sonderkommandos von Auschwitz

Im August 1944 gelingt es Häftlingen, die dem Sonderkommando in Auschwitz-Birkenau angehören, vier Fotos zu schießen und aus dem Lager zu schmuggeln. Zwei dieser Fotos zeigen aus großer Distanz Männer, die an Gruben stehen, aus denen Rauch aufsteigt, vermutlich verbrennen die Männer Leichen. Ein weiteres zeigt eine dicht gedrängte Gruppe nackter Frauen, das vierte eine Baumkrone von unten, Zeugnis der Hast, mit der es angefertigt werden musste. Um zu beweisen, was in Auschwitz geschieht, sollten die Bilder dem polnischen Widerstand zugespielt und veröffentlicht werden.

Letzteres geschah damals nicht. Warum, ist nicht überliefert. Viel später, Anfang der 2000er Jahre, kam es zu einer Kontroverse. Nachdem die vier Aufnahmen in Paris gezeigt und der Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman dies in einem Katalogbeitrag begründet hatte, gab es harsche Widerworte in der von Claude Lanzmann herausgegebenen Zeitschrift Les temps modernes. Solche Bilder öffentlich zu machen, sei so, als müsse man Beweise für die Schoah erbringen. Und zu denken, man müsse Beweise erbringen, sei fast so, als stelle man das Geschehen der Schoah infrage. Didi-Huberman antwortete darauf, die Bilder seien wertvolle Zeugnisse eines widerständigen Aktes. Sie auszustellen, gebiete der Respekt vor denjenigen, die dabei ihr Leben riskierten.

Was hat diese Debatte mit dem Festival von Cannes zu tun? Im Wettbewerb präsentierte am Freitagnachmittag der 38 Jahre alte ungarische Regisseur László Nemes sein Langfilmdebüt „Saul fia“ („Son of Saul“). In einer Szene rekonstruiert er den Augenblick, in dem die Angehörigen des Sonderkommandos fotografieren. Nemes gibt sich damit als jemand zu erkennen, der sich in den Debatten über die Darstellbarkeit der Schoah auskennt.

Seine Antwort auf die letztlich unlösbare Frage, ob Bilder Details der Vernichtung wiedergeben können oder nicht, lautet: Ja, sie können – wenn man nur kunstfertig genug ans Werk geht, die Kamera entfesselt, sie um den Kopf des Protagonisten Saul (Geza Röhrig) kreisen lässt und daraus elaborierte Plansequenzen entwickelt, die das Geschehen von Auschwitz-Birkenau – sei es die Ankunft eines Transports, das Auskleiden im Vorraum der Gaskammer, das Töten oder das Verbrennen der Leichen – an den Bildrand, in unscharfe Bereiche oder ins Off verschieben. Was man nicht sieht, hört man gleichwohl: Das Bellen der Hunde, die Befehle der Deutschen, Schläge und Schüsse, und wenn die Kamera schließlich vor der Tür der Gaskammer innehält, heißt das nicht, dass die Mikrofone das auch tun.

Eine Narration schält sich aus diesen Bildern nach und nach heraus. Saul, an dem sich der Kameramann Mátyás Erdély orientiert, meint, unter den Leichen seinen Sohn zu erkennen, und tut fortan alles, um dem Kind ein richtiges Begräbnis zuteil werden zu lassen.

Eine Weile schaue ich mir das an und frage mich, woher meine intuitive Ablehnung rührt. Ist die Abwehr der Bilder eine Abwehr des Schreckens von Auschwitz? Ein Reflex, der zwar umstandslos Rationalisierungen sucht und findet, deswegen aber nicht weniger problematisch ist? Kann das Normative im Diskurs um die angemessenen Bilder nicht auch ein Hindernis fürs Denken sein?

Trotz dieser Zweifel bleibt der Eindruck, dass sich Nemes zwar mit Verve auf Didi-Hubermans These von der Notwendigkeit der „Bilder trotz allem“ (so der Titel des Essays) stürzt, dabei aber komplett übersieht, dass in der Debatte um die vier Fotografien viel Wert auf deren Zeugnis-Charakter gelegt wurde, außerdem auf Kontextualisierung und eine historiografische Einbettung. Nie ging es darum, die Fotografien als Grundlage für ein filmisches Reenactment zu nutzen, die Orte des industrialisierten Mordens als Filmset zu rekonstruieren oder Statisten dazu zu bringen, Leichen zu spielen und sich nackt über glitschigen Boden schleifen zu lassen, und das alles als Hintergrundfolie für die Geschichte eines Mannes, der in den Wahnsinn sinkt.

Je länger „Saul fia“ dauert, umso mehr stören die ausgestellte Virtuosität des Films und das Kalkül, mit der die Festivalmacher diesen Film vorab als denjenigen ankündigten, der die Zuschauer spalten werde. Das tut er, keine Frage. Doch das ändert nichts daran, dass er über die historische Realität von Auschwitz-Birkenau wenig erzählt.CRISTINA NORD