Das Gelände redet nicht mehr

TOPOGRAPHIE Martin Gressmanns so streng komponierter wie poetischer Dokumentarfilm „Das Gelände“ erzählt die Geschichte der Brache, auf der sich einst das Terrorzentrum der Nationalsozialisten befand

Die Kinder, die von den Schutthügeln rodelten, wussten nichts von der Geschichte

VON ULRICH GUTMAIR

Ein verwunschener Ort. Das Grün wuchert ungehindert, alte Autoreifen liegen herum, und der übliche kleinteilige Dreck, der sich sammelt, wenn niemand sich kümmert. Eine Texttafel annonciert das Jahr 1985, in dem Martin Gressmann seine filmische Langzeitbeobachtung des „Geländes“ begann, das sich Jahrzehnte selbst überlassen blieb. Abgesehen davon, dass die Berliner Bauindustrie hier den Schutt der Gründerzeitgebäude ablud, die der flächendeckenden Sanierung von Kreuzberg im Weg waren.

Der Filmemacher beginnt seine Erzählung mit einer Erinnerung seiner Großmutter an eine Berliner Straße, durch die man nicht gerne ging, auch wenn es der kürzeste Weg war. Eine Straße, deren Namen aus dem Straßenverzeichnis getilgt war, als die Mauer stand, deren Reste man hier noch heute sehen kann. Von 1933 bis 1945 befanden sich in der Prinz-Albrecht-Straße die Zentralen des nationalsozialistischen Terrors: das Geheime Staatspolizeiamt mit eigenem „Hausgefängnis“, die Reichsführung-SS, der Sicherheitsdienst (SD) der SS – Thinktank der Vernichtungspolitik – und während des Zweiten Weltkriegs auch Heinrich Himmlers Reichssicherheitshauptamt.

Seit 1988 kennt man das Gelände als „Topographie des Terrors“. Eine Million Besucher haben im vergangenen Jahr die Gedenkstätte besichtigt, die sich den Tätern im ehemaligen Regierungsviertel rund um die Wilhelmstraße widmet. „Das Gelände“ erzählt auf so poetische wie eindrückliche Weise zum einen die Geschichte dieser Terrorzentrale, zum anderen die schwierige und langwierige Geschichte der Entwicklung des Erinnerungsorts.

Hin und wieder sind Archäologen zu sehen, die das kopflose Skelett eines deutschen Soldaten exhumieren oder den Eiskeller des Prinz Albrecht Palais freilegen, in dem man in den Sommern des 18. und 19. Jahrhunderts mit Haveleis Lebensmittel kühlte. Die Kamera beobachtet aber auch die städtebauliche Entwicklung rund um das Gelände, wo Architekten der IBA Berlin in den Achtzigerjahren postmodernen sozialen Wohnungsbau auf die Brachen setzten, die Abriss und Bombenkrieg hergestellt hatten. Beim verheerendsten Angriff auf Berlin am 3. Februar 1945 war auch die Terrorzentrale der Nazis getroffen worden.

Dem Trend zeitgenössischer Dokumentarfilmkunst folgend verzichtet „Das Gelände“ auf didaktische Hilfsangebote an die Zuschauer. Die Talking Heads der Experten und Aktivisten, die man sprechen hört, werden nicht gezeigt. Erst im Abspann ist die Liste derjenigen zu sehen, denen die Stimmen gehören. An manchen Stellen wüsste man schon gerne, wer grade spricht. Man muss es den beteiligten Historikern hoch anrechnen, zugunsten eines ästhetischen Konzepts auf eine direkte namentliche Zuordnung ihrer Gedanken zu verzichten.

Das Schöne an dieser strengen Form, ausschließlich Aufnahmen des Ortes zu zeigen und Informationen über die Tonspur zu vermitteln, besteht aber darin, dass die Zuschauer dem Ort und seiner Geschichte gleichermaßen nahe kommen können. Man wünscht sich sogar, Martin Gressmann wäre noch strenger gewesen, und hätte auf zusätzliche akustische Atmo-Elemente verzichtet: Man will nicht das Klappern einer Schreibmaschine hören, wenn von Schreibtischtätern die Rede ist. Zumal die Stimme eines der beteiligten Historiker erklärt, dass Schreibtischtäter ein ganz falscher Ausdruck für die hier tätigen arischen Akademiker um die dreißig war, die durch ganz Europa reisten, um hier eine Vernichtungsaktion zu leiten und dort ein Gestapobüro zu eröffnen.

Die Kinder, die in den kalten Wintern der Achtziger von den Schutthügeln rodelten, wussten nichts von der Geschichte des Ortes. Manche Anwohner schnitten sich hier ihre Weihnachtsbäume ab. Einer der Stümpfe hat sofort wieder ausgetrieben. Heute ist er 15 Meter groß.

„Das Gelände hat seine Spannung verloren. Es redet nicht mehr“, sagt eine Stimme aus dem Off. Das mag man als Trümmerromantik abtun, verweist aber auf ein grundsätzliches Problem. So wichtig es ist, dass auf dem Gelände nun eine Gedenkstätte errichtet ist, die sich der Vermittlung der Geschichte widmet, wie Menschen aus der bürgerlichen Mitte brutal und gefühllos einen Kontinent nach ihren Wünschen „ordneten“, so stark überdecken Diskurs und Architektur doch auch die lange sichtbaren Überreste der Geschichte dieses Orts.

Jetzt blicken wir durch einen Filter auf die Vergangenheit. Ihre Spuren sind in die Ferne gerückt.

■ „Das Gelände – Wasteland – Terrain Vague“ ab Donnerstag, 21. Mai, täglich 18.15 Uhr im FSK-Kino am Oranienplatz. Am 22. Mai wird Martin Gressmann zum Filmgespräch ins FSK kommen