Think big, girl. Think kingsize

POPVISIONÄRIN Auf „Apocalypse, Girl“ baut Jenny Hval Songs wie Filmszenen auf. Und singt über Kindheitsträume, weibliche Lust und Religiosität

Nein, das ist kein Kuschelpop. Jenny Hval konfrontiert das Publikum mit innerer Zerrissenheit

VON NATALIE MAYROTH

Eine Frau im weißen Morgenrock, kopfüber auf einem knallroten Gymnastikball gebeugt. Der Stoff bedeckt gerade ihren Po. Ein anzügliches Bild, das Jenny Hval für die Coverfotografie von „Apocalypse, Girl“, ihrem dritten Album unter dem Klarnamen, gewählt hat. Anzüglich ist auch die Textwelt der 34-jährigen Norwegerin. Hval spielt immer mit der Sprache und untersucht damit Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit.

Vor neun Jahren veröffentlichte sie ihr Debütalbum „To Sing You Apple Trees“, noch unter dem Künstlernamen Rockettothesky. Tabus kannte sie schon damals keine: Ausdrücke wie clit, cunt und dick finden sich oft in ihrer Textwelt. Sarkastisch erklärt sie schon im Intro von „Apocalypse, Girl“ den von Männern geprägten „Soft Dick Rock“: „Using the elements of dick to create a softer, toned-down sound.“

Produziert wurde „Apocalypse, Girl“ vom norwegischen Noise-Künstler Lasse Marhaug. Durch ein Interview für sein Fanzine Personal Best kam es zur Zusammenarbeit. Erschienen ist Hvals neues Werk beim New Yorker Indielabel Sacred Bones, sonst Heimstatt für die Musik von Zola Jesus oder die Crystal Stilts. Neben den Bandmitgliedern Kyrre Laastad und ihrem Lebensgefährten Håvard Volden wirken etwa auch der Jazzpianist Øystein Moen, die südkoreanische Cellistin Okkyung Lee und der britische Komponist und Harfinist Rhodri Davies mit.

Ihre Songs baut Hval wie Filmszenen auf, die langsam Fahrt aufnehmen und stetig ineinanderfließen. Kindheitsträume bilden die Basis für die Vorstellungswelten in den Texten. Hval erzählt in einem Interview, dass sie diese durch ihre Musik wahr werden lassen kann: Aus Traumlandschaften wird songgewordene Fiktion.

Die ersten, geflüsterten Strophen von „Kingsize“ haben einen pornografischen Unterton. Mit einer Sängerin in der Hauptrolle, deren Stimme sehr erotisch klingt. Dabei bedient sie sich in der englischen Übersetzung Formulierungen der dänischen Schriftstellerin Mette Moestrup: „Think big, girl. Like a king, think kingsize“. Wer ist das „Girl“ aus dem Albumtitel? „Did you learn nothing in America?“, fragt sie zum Albumauftakt „Kingsize“. Der Song hat etwas von einer Gebrauchsanweisung. Doch, so gibt sie wenig später zu verstehen, es gibt dort auch keine dicken Bananen, bei Konzerten spielt sie gerne mit einer überdimensionierten Banane.

Erregte Körper

Der erregte weibliche Körper wird zum Ausgangspunkt der Songs. Musikalisch changieren sie zwischen elektronischem Noise, säuselndem Easy Listening und Soundcollagen. Intime Botschaften mischen sich mit geständnishafter Songlyrik, stellenweise wirkt diese berührend, wenn Hval offen über Lust spricht: „In a restless half-dream / Like the jam without a spoon / And I grab my cunt with my hand that isn’t clean.“ Ihr Wunsch sei es, ein Junge zu sein. „I’m six or seven, and dreaming that I am a boy“, singt sie in „Sabbath“.

Pop hat oftmals triviale Untertöne, Hvals Themen sparen diese aus. Dagegen ziehen sich Sex und Religion durch alle Texte. In „Take care of yourself“ thematisiert die Sängerin, was Medien für junge Frauen an Rollenbildern parat habe: Heirate, bleib gesund, rasier dich an den richtigen Stellen. Welche Gesellschaft versucht nicht, Frauen in ein Korsett zu zwängen? Oftmals wechselt Hval in Sprechgesang, um über Konsum, Massenmedien und vermittelte Geschlechterrollen zu singen: Du bist unglücklich, wirst sterben, aber du brauchst einen Mann und ein Kind, um vollkommen zu sein.

Überzeugt ist sie davon natürlich nicht, deshalb plagen Hval in ihren Texten viele Fragen: Ist es wichtig, für die Sichtbarkeit von Frauen zu kämpfen? Obwohl ihre Antworten widersprüchlich sind, beantwortet Hval die von ihr gestellten Fragen auch mit der Veröffentlichung von „Apocalypse, Girl“. Klar ist das wichtig.

Manchmal klingt ihre Stimme anklagend, dann erhebt sie sich in schwindelnde Höhen wie eine junge Alanis Morissette – und beweist stimmgewaltige Vielfalt. „What’s wrong with me?“ erzählt von ihrer katholisch geprägten Jugend in einem Kirchenchor – eine Reise in ihre Vergangenheit, die durch Rhodri Davies Harfe in „Heaven“ eindrucksvoll untermalt wird.

Die Suche ist ihr Kampf

Jenny Hval, das beweist „Apocalypse, Girl“ ist auf der Suche und sie beschwört diesen Weg als Kampf. „That battle is over“ führt Jenny Hval die Gedanken aus „Take care of yourself“ weiter, spitzt sie zu: „You say I’m free now, that battle is over, and feminism is over und socialism’s over / Yeah, I say I can consume what I want now“.

Nein, „Apocalypse, Girl“ ist kein Kuschelpop, den man mal nebenbei hört. Er konfrontiert das Publikum mit einer Kritik an den Verhältnissen und mit innerer Zerrissenheit.

Zum Finale ist Jenny Hval wieder bei „Holy Land“, zurück in den USA, Ausgangspunkt des Auftaktsongs „Kingsize“. Hvals Gesangsstrophen sind aufgebaut wie ein Gedicht über Geburt und Wiedergeburt, die sie am Ende zum Orgasmus verleiten. „I understand why people want to be reborn“ – sie hat den Wunsch nach Wiedergeburt verstanden: „I understand it in America“.

■ Jenny Hval: „Apocalypse, Girl“ (Sacred Bones/Cargo) Live: 20. Juni „Stadtgarten“ Köln, 22. Juni „Kantine Berghain“ Berlin, 23. Juni „Kampnagel“ Hamburg