Gute und schlechte Frauen

STREITSCHRIFT Wie frei sind Frauen, sich gegen die Mutterschaft zu entscheiden? Dieser Frage geht Sarah Diehl in einem Buch nach, das sie nun in Hamburg vorstellt

VON ALEXANDER DIEHL

Wahrscheinlich ist dieser Rousseau schuld: In seinem „Emile“ postulierte der Genfer Aufklärer im Jahr 1762 nicht nur ein im Prinzip bis heute gültiges Bild davon, was die Kindheit sei. Er legte auch fest, dass niemand so sehr Mutter sein könne wie, nun, die leibliche Mutter, schon von ihrer Natur her.

Wie haltbar solche Sicht der Dinge ist, zeigt der Abriss über den historischen Wandel von Frauen- und Mutterrolle, mit dem Sarah Diehl ihr Buch „Die Uhr, die nicht tickt“ (Arche-Verlag, 2014) eröffnet: Was Rousseau im 18. Jahrhundert vorgelegt hat, ist demnach immer wieder variiert worden, etwa um die Facette, dass die Frau sich im „Garten der Ehe“ am besten entfalte, wie es bei Nietzsche heißt.

Vorläufig zusammenfassen lässt sich der flotte Gang durch die Geistesgeschichte so: „Unter der Berufung auf ihre Natur wurde die Frau zum ausführenden Organ männlicher Theorien.“ Nun hat die Berliner Publizistin und Dokumentarfilmerin aber nicht die Vergangenheit zum Thema. Ihrer erklärten Streitschrift geht es um höchst Aktuelles: Die Uhr, die da nicht tickt, ist die „biologische Uhr“ der Frau – oder auch bloß ihre Gebärmutter. „Kinderlos glücklich“ lautet der Untertitel, und wenn da ein schweres Geschütz wie das Glück aufgefahren wird, dann deutet das an: Eben das scheint irgendwer Frauen abzusprechen, die keine Mütter sein wollen.

Und das macht Diehl als vielleicht jüngste, ganz sicher aber nicht letzte Manifestation jenes zumeist von Männern bestimmten Diskurses aus: Wenn sich die Frau – zumindest heute, zumindest nicht im Westen – partout nicht durch angeblich gott- oder auch nur naturgegebene Konventionen an den Herd respektive in den Kreißsaal sperren lässt, dann ist sie doch vielleicht so zu fassen: Wer nicht gebärt, solange das möglich ist, wird es später ganz sicher bereuen.

Andernorts vielleicht bestehende, auch absichtsvoll vertiefte Gräben – zwischen den „guten“ und den „schlechten“ Frauen, den aufopferungsvollen Müttern und den selbstsüchtigen anderen – interessieren die Autorin nicht: „Häufig ist das Erste, das die Leute von dem Buch erwarten, dass ich Prenzlauer-Berg-Mütter runtermachen will“, hat sie dem Magazin Missy gesagt. Das Mutterideal schränke Frauen mit und ohne Kinder ein. „Das Schlimme ist ja: Als Mutter hast du objektiv betrachtet tatsächlich den Kürzeren gezogen und genau das ist ja das Problem.“

Wie also eine zurecht sich so nennende Emanzipation stets auch für eine Befreiung des Mannes zu kämpfen hat – den bewusst kinderlosen Männern bleibt noch mal ein ganz eigener Zugriff zu widmen –, so streitet Diehl nicht gegen die Mütter oder deren Entscheidung, will sie nicht die traditionelle Familie abgeschafft sehen – aber deren Anspruch, allein glückselig zu machen. Seien Kinder da, „sollten sie gefördert werden, egal, in welchem Verbund sie aufwachsen“, schreibt sie: „Wer sich einmal genauer umsieht, wird feststellen, dass es in Wirklichkeit sehr viel mehr Modelle gibt als nur die, die uns so hartnäckig als Ideal präsentiert werden.“

Man könnte finden, vieles da Geschriebene müsste längst bekannt sein, dass entscheidende Schlachten doch längst geschlagen worden sind, vor drei, vier Jahrzehnten. Aber es ist auch heute nur ein kurzer Weg: zum nächsten gezielt angezettelten „Rabenmütter“-Bashing. Oder dem nächsten Shitstorm, den sich eine einhandelt, die zugibt, sie bedaure, Mutter geworden zu sein. Nein, von dem hier Verhandelten ist nichts von gestern.

■ Mi, 27. Mai, 20 Uhr, Buchhandlung im Schanzenviertel