Über die Buckel in die Geschichte

HEIMATSPORT Kanada atmet auf: Alexandre Bilodeau gewinnt erstes Olympiagold auf heimischem Boden und sorgt dafür, dass die Gastgeber begeistert ihre Bäuche entblößen und auch sonst die Zurückhaltung aufgeben

Der Fluch von Montreal und Calgary ist endlich weggewischt

AUS VANCOUVER MARKUS VÖLKER

Die Frage nach dem berühmtesten Kanadier kann derzeit leicht beantwortet werden. Das ist Alexandre Bilodeau, ein sympathischer Typ mit ziemlich elastischen Beinen. Er hat eine Nation errettet, die seit zwei olympischen Tagen nach dem ersten olympischen Gold, geschürft in heimischer Erde, lechzte. Nach ihrem Geschmack zu lange mussten die Kanadier warten, bis es einer der ihren geschafft, bis jemand den Fluch der Spiele von Montreal und Calgary weggewischt hat, als die Olympiagastgeber keine einzige Goldmedaille gewinnen konnten. Im nationalen Überschwang hatten die Kanadier jetzt einfach keine Geduld mehr. In ihrem Unterfangen, eine noch stolzere Nation als die amerikanische zu werden, musste sofort Gold her.

Die ersten Aspiranten hatten gepatzt, die Eisschnellläuferinnen auf der 3.000-Meter-Strecke, die Shorttracker um Charles Hamelin über 1.500 Meter und auch Jennifer Heil, deren Goldplakette auf der Buckelpiste fest eingeplant war. Ihr Trainingsparnter, Bilodeau, schon im Vorfeld hoch gehandelt, machte seine Sache besser und ließ die über 8.200 Zuschauer am Cypress Mountain im bergigen Norden von Vancouver schier ausflippen. Man sah bei Minusgraden nackte Schmerbäuche, Volunteers, die mit der kanadischen Flagge die Strecke stürmten, und Preisrichter, die ihre Neutralität aufgaben und fotografierten wie japanische Bustouristen. Wer den Blick auf die Siegerehrung versperrte, wurde angeschnauzt, er solle nicht diesen besonderen kanadischen Moment stören.

„Ich kann es jetzt noch gar nicht fassen, dass ich Teil der Geschichte geworden bin“, sagte Bilodeau nach seinem Ritt über die Buckel. Neben ihm saß ein Mann, der die Silbermedaille gewonnen hatte, aber dennoch wie ein Verlierer aussah, auch er Kanadier. Es handelte sich allerdings nicht, wie man denken könnte, um einen kanadischen Doppelsieg, denn Dale Begg-Smith hat seit geraumer Zeit einen australischen Pass. Missmutig und maulfaul gab er sich. Zuerst hatte es gar den Anschein, als wolle der in Vancouver aufgewachsene Olympiasieger von Turin gar nicht aufs Pressepodium steigen.

Weil sich Bilodeau verspätete, hatte Begg-Smith sich in eine Ecke verdrückt und reagierte auch nicht auf die Anweisungen eines Pressemannes, der ihn nach vorn lotsen wollte. Ja, dieser Typ ist nicht einfach, das konnte jeder sehen. Unter der Woche hatte er sich noch etwas umgänglicher gezeigt, allerdings durften seinen Ausführungen nur australische Journalisten lauschen, andere, vor allem kanadische, waren nicht erwünscht. Damals in Turin hatte man ihn Löcher in den Bauch gefragt, wollte wissen, wie genau er seine Millionen im Internet verdient hat und ob es wirklich stimmt, dass er in einem Lamborghini herumkurvt.

Es hieß, sein Geschäft bestehe darin, gefährliche Software in Umlauf zu bringen. Dann taufte man ihn den „Spam Man“. Das hat Begg-Smith nicht vergessen. Fragen zum Business beantwortet er grundsätzlich nicht mehr, er sagt heute lieber Sätze wie: „Ich bin Ski gefahren, wie ich halt Ski fahren kann.“

Man hat gesehen: Das kann er sehr gut. Mit Inverted Jumps, Quadruple Backscratchers und der stoßgedämpften Skifahrerei kennt er sich wirklich gut aus. In einer Sportart, in der es darum geht, behände über die „Moguls“ zu schnippen und nebenbei zwei spektakuläre Sprünge hinzulegen, hat der Kanadaustralier eine seltene Könnerschaft entwickelt. Doch die Konkurrenz ist gewachsen.

Obwohl das Publikum vor allem die kanadischen und amerikanischen Fahrer frenetisch feierte, wollte Begg-Smith eine völlig unvoreingenommene Masse erlebt haben: „Jeder wollte nur eine gute Zeit haben“, sagte er und lag haarscharf daneben, denn es ging den meisten Buckelpistenfans in erster Linie um eine kanadische Goldmedaille. Alexandre Bilodeau hat sie sich mit 26,75 Punkten geschnappt. Der 22-Jährige bedankte sich hernach bei Jennifer Heil, 26, die wie eine Schwester für ihn sei, überdies „Vorbild und Quelle der Inspiration“. Er sagte, er wolle den Sieg seinem behinderten Bruder widmen.

Das größte Stück vom Kuchen wird Bilodeau allerdings an die Nation abtreten müssen. Und der Parcours, den er in den kommenden Tagen wird absolvieren müssen, dürfte um einiges anstrengender sein als die zwei Läufe auf der Hindernispiste am Cypress Mountain.