Sherko Fatah: "Das dunkle Schiff": Vom Kampf allein lebt ein Kämpfer nicht

Keine Angst vor großen Stoffen: Der kleine, dicke Kerim wird zum großen, dünnen Gotteskrieger, und aus dem Koch in Irakisch-Kurdistan wird bald ein Liebender in Berlin.

Im Irak des Saddam Hussein konnte sterben, wer auf der Begleichung einer Rechnung bestand. Dies wiederfährt dem Vater Kerims, der Hauptfigur von Sherko Fatahs Roman "Das dunkle Schiff". Kerims Vater ist Wirt und betreibt ein Gasthaus an der Überlandstraße nach Bagdad, im kurdischen Norden des Irak. Zwei Geheimdienstleute des Bagdader Regimes überfahren ihn eines Tages mit ihrem Geländewagen, aus Laune. Der junge Kerim, der dicke, älteste Sohn, sowie die Gasthausbesucher sind Zeugen der Szene. Mit der Ermordung des Vaters gehen die Verantwortung für den Betrieb des Gasthofs und die Ernährung der Familie auf den Jungen über.

Wahrscheinlich ist es realistisch, was Sherko Fatah an Kerims Werdegang schildern will: Die irakische Jugend hatte zuletzt keine Jugend. Mit dem Überfall auf den Iran in den 1980ern eskalierte die Gewaltherrschaft des Baath-Regimes vollends. Wer nicht Opfer des Gemetzels wurde, war mit dem nackten Überleben beschäftigt. Und es kam immer noch schlimmer: Der irakische Überfall auf Kuwait sollte die internationale Intervention heraufbeschwören; das tollwütige alte Regime reagierte mit Krieg im Innern und Völkermord an den Kurden - symbolisch schwebt zu Beginn des Romans von Sherko Fatah deshalb eine Wolke über der kurdischen Stadt Halabja.

In einer solchen Situation lässt also Fatah seine Hauptfigur, den jungen Koch Kerim, heranwachsen. Um Fleisch für den Gasthof zu beschaffen, gehen er und sein Vater nachts heimlich auf die Jagd. Ihr Ziel sind die verlassenen Höfe in Irakisch-Kurdistan, von denen die Bauern vor Saddams Paramilitärs geflüchtet sind, so sie nicht umgebracht wurden. Vater und Sohn jagen dort Esel und Maultiere, die die Menschen zurückgelassen haben. Das ist zwar verboten und ein bisschen brutal, aber eine andere Möglichkeit sehen sie nicht, um den Gästen im Lokal zum Reis Fleisch servieren zu können. Die Geschehnisse kommen in diesem Roman von Anfang an auf den jungen Kerim zu, ohne dass er eine Chance hätte, sie wesentlich zu beeinflussen. Die Enge der ländlichen Umgebung, die Strenge der Wirtschaft, die Willkür des Regimes.

Sherko Fatah lässt seinen jungen Schützling an einen Gefangenentransporter herantreten und mit Geschundenen des Regimes sprechen. Kerim ahnt, dass dies gefährlich sein könnte, aber er kann nicht anders, als so zu handeln. Kindliche Neugierde und Mitgefühl trotzen einer Gefahr, der er sich schon bald nur durch eine Notlüge entziehen können wird. Und so wird Kerim, der Heranwachsende, schon früh und schuldlos zum Täter: Um sich selbst zu schützen, gibt er den besten Freund des Vaters dem Staatsterror preis. Sherko Fatahs Botschaft wird in diesem Roman damit schon früh deutlich: Egal was du unter solchen Verhältnissen tust, du wirst dich in Schuld verstricken. Und so ist Kerim früh ein traumatisierter Junge. Nach der Ermordung des Vaters droht er an der ihm aufgebürdeten Last zu zerbrechen. Doch dann beschleunigen sich die Ereignisse, und auch das Leben des Kochs Kerim gewinnt erstaunlich an Fahrt.

Die US-geführten Koalitionstruppen haben inzwischen das Regime in Bagdad gestürzt, und Kerim, der mit stattlicher Leibesfülle ausgestattete Wirt an der Überlandstraße, wird bei einer riskanten Fahrt über Land entführt. Man weiß nicht so recht, ob man besser sagen sollte: Er lässt sich entführen. Sherko Fatah hat seine Figur mit einem gehörigen Hang zur Depression, zu Fatalismus und Nihilismus versehen. Die Handlung ist spannend, doch lässt sich Kerims Entwicklung psychologisch kaum nachvollziehen. Einmal in der Hand der Gotteskrieger, soll er sich plötzlich selber in einen solchen verwandeln. Warum aber soll das einer tun, für den Religion und Politik im Romangeschehen zuvor kaum eine Rolle spielte? Warum soll eine Figur, die teilnahmslos dem großen Ganzen folgt, auf einmal gemeinsame Sache mit ihren bärtigen Häschern machen?

Sherko Fatah kann sich sicherlich auf historisch verbürgte Beispiele berufen. Doch so wie dies im Roman dargelegt wird, wirkt es erzwungen und wenig plausibel. Erklärende Hinweise zur Entwicklung seiner Hauptperson vom Koch zum Gotteskrieger fehlen praktisch gänzlich. Es scheint das große Manko dieses Romans zu sein, vor der welthistorischen Größe des Themas allzu sehr auf die Suggestionskraft nackter politischer Handlungen und Annahmen gesetzt zu haben. Doch diese allein erklären bekanntlich noch wenig; schon gar nicht, warum sich der ein oder der andere den Bart wachsen lässt und religiös erwacht.

Die Gemütslage der Menschen in dieser Geschichte ist doch sehr schlicht geschildert; das ist auf die Dauer etwas ermüdend zu lesen und müsste auch nicht so sein. Überraschungseffekte fehlen fast gänzlich ebenso wie Beschreibungen gegen die Stereotypie. Warum bekommt eine Frau wie Kerims Mutter nicht etwas mehr Kontur, oder warum soll man die Psyche eines Gotteskriegers nicht so differenziert gestalten, wie sie wahrscheinlich ist? Vom Kampf allein lebt auch ein Kämpfer nicht.

Vor der irakisch-kurdischen Kulisse ist der Roman dennoch lesenswert und kann hier den Bonus des Unbekannten ausspielen. Der 1964 in Ostberlin geborene und 1975 nach Westberlin übersiedelte Sohn einer Ostdeutschen und eines kurdischen Irakers weckt die Neugier auf das Leben im irakisch-iranischen Grenzgebiet. Doch was dann noch alles kommt, ist definitiv zu viel: die naturalistisch zäh wiedergegebene illegale Schiffspassage nach Europa ebenso wie die Räuberpistole aus Migranten-Berlin. Asylbewerber Kerim trifft dort seine deutsche Sonja, der er über "den Venushügel" streicht, treibt sich mit einem Amir herum und plaudert über Terroristenführer al-Sarkawi. Am Schluss bleibt er aber hauptsächlich "das Opfer". Kerim macht vom kleinen Jungen zum Koch, vom Gotteskrieger zum Migranten große Entwicklungssprünge durch, ohne dass sich dadurch die Perspektive einmal entscheidend literarisch brechen oder erweitern würde. Die Wirklichkeit bleibt in diesem Roman zu klein. Viktimisierung ist stattdessen das zentrale Motiv, und das ist doch ein bisschen zu bequem.

Sherko Fatah: "Das dunkle Schiff". Jung und Jung, Salzburg/Wien 2008, 440 Seiten, 22 Euro

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.