Wie man Fundstücke zum Leuchten bringt

HEIKLE GESCHICHTEN Hier sprechen echte Menschen: Ein Lobgesang auf Frank Schulz – aus Anlass seines Erzählungsbands „Mehr Liebe“

VON FRANK SCHÄFER

Man weiß ja nun, dass die literarische Hautevolee bei dem Prädikat „unterhaltsam“ immer noch ein bisschen die Nase rümpft, als würden damit eherne gesellschaftliche Benimmregeln verletzt – und vielleicht auch so, als würde der Text gewissermaßen nach Stall riechen. Frank Schulz besitzt diese oft unterschätzte, dabei ganz wesentliche und gar nicht hoch genug wertzuschätzende Qualität des wahren Dichters: Er ist schlicht unfähig, den Leser zu langweilen. Und so erscheint es im Nachhinein geradezu folgerichtig, dass seine „Hagener Trilogie“ zu solch einem Publikumserfolg avancierte.

Überraschenderweise schien die Literaturkritik diesmal überhaupt keine Einwände zu haben, im Gegenteil, sie rief fast einstimmig einen veritablen Frank-Schulz-Hype aus. In diesem Fall musste man den mal begrüßen, weil hier endlich einmal der Richtige und noch dazu mit den richtigen Argumenten gehypt wurde. Diese hoch amplifizierte Prosa hat trotz all ihrer offensichtlichen Virtuosität nichts Verschmocktes und auch nichts Etüdenhaftes, Schulz’ furiose Beschreibungsexerzitien stellen sich nicht vor die Welt, sondern lassen sie in möglichst vielen Facetten leuchten.

Sprachliche Marotten

Besonders eindrucksvoll zu beobachten ist das immer wieder in den Dialogen. Indem er das gesprochene Wort seiner Protagonisten nuancengenau, also mit all deren Akzente, dialektalen Verfärbungen und sprachlichen Marotten notiert, verleiht er ihnen einen Körper, mit ganz individueller Physiognomie. Hier sprechen keine Pappkameraden, sondern echte Menschen. Und Frank Schulz nimmt sich ihrer Passionen und Verhängnisse mit so viel Wärme, Empathie und Menschenfreundlichkeit an, dass sie einem zu Herzen gehen.

Nach dem Kindheits-, Heimat- und vor allem Trinkerroman „Kolks blonde Bräute“, dem Schelmen-, Künstler- und Trinkerroman „Morbus fonticuli oder Die Sehnsucht des Laien“ und dem mythologisch intrikat unterfütterten Schäfer- und, kaum zu glauben, Temperenzler-Roman „Das Ouzo-Orakel“ legt Frank Schulz nun einen Band mit 22 Erzählungen vor, oder wie es der Untertitel will: mit „Heiklen Geschichten“. „Mehr Liebe“ ist er betitelt, anspielend auf einen Aphorismus von Marie Ebner-Eschenbach, der dem Buch als Motto voransteht: „Die meisten Menschen brauchen mehr Liebe, als sie verdienen.“

Dass alle diese „Heiklen Geschichten“ im Hinblick auf das Buch geschrieben worden sind und also die titelgebende Sentenz kalkuliert variieren, kann man glauben oder auch nicht. Es ist ganz egal, weil diese Storys gar keinen sinngebenden Bezugsrahmen benötigen, weil ihre sprachliche Suggestionskraft und ihre Wahrhaftigkeit sie ohnedies zu Kunstwerken machen, die für sich allein stehen.

In einigen Geschichten nimmt Frank Schulz noch einmal den Faden der „Hagener Trilogie“ auf und stopft diesen gewaltigen Strickstrumpf an ein paar Stellen. So erzählt er in „Sehnsuchtsglühen“ und in „Weiße Katze“ von den ersten, profilschärfenden Liebeshändeln des Hauptprotagonisten Bodo Morten und zeigt sich hier einmal mehr als großartiger, nämlich ganz unlarmoyanter, unpeinlicher Chronist der Adoleszenz.

Schulz-Novizen übrigens können die beiden Texte quasi als Leseproben der großen Romane nehmen. Wer von den auf eine gute Weise nostalgietrunkenen, den Helden auf Schritt und Tritt, Geste und Grimasse folgenden Geschichten nicht affiziert ist, sollte es besser gleich lassen.

Die Erzählung „Der Stich des Bienenmörders“ liest sich dann wie ein Spin-off des „Ouzo-Orakels“. Das fiktive griechische Dorf Kouphala am Ionischen Meer, Austragungsstätte der Romanhandlung, wird hier zum Sehnsuchtsort einer hoffnungslos idealisierten Liebe, deren Erfüllung dann schon nicht mehr die Erfüllung ist. Als Katja ihren Pavlos endlich bekommt, will dieser quasimythische Adonis doch tatsächlich um jeden Preis Deutscher werden: weil Deutschland so ordentlich sei, da gebe es „sogar Extrawege für Radfahrer“.

Ein großes Repertoire

Wie immer wird die Poesie an der prosaischen Realität zuschanden, dabei hätte Katja es besser wissen können. Nach der ersten Begegnung mit ihrem „Traummann“, ausgerechnet auf der Hochzeitsreise mit Florian, errichtet sie zu Hause zur Erinnerung an ihn eine Art Altar mit Fundstücken vom Strand – und entdeckt, dass man der Realität manchmal nachhelfen muss: „Die rauen, grauen Schleier, die auf ihren Kleinodien lagen, enttäuschten Katja, ja verstörten sie. Doch als sie die Vase mit Wasser füllte (sie fügte gar einen Teelöffel Meersalz hinzu), lebten sie auf, leuchteten geradezu …“

In der komplementären Geschichte „Sieben Pferde“ ist es wieder ein männlicher Held, der sich ebenfalls jahrelang verzehrt nach einer Liebe, die dann auf ganzer Linie scheitert. Und dieser sich den Liebesfrust wegsaufende Helmer könnte auch ein Zwillingsbruder Bodo Mortens sein. Abgesehen von solchen Variationen und Ergänzungen der drei Romane erweitert Frank Schulz in diesem Erzählungsband aber auch noch einmal sein Repertoire. Zum einen zeigt er seine ganze formale Vielseitigkeit und bedient mit den Gattungen Novelle, Kurzgeschichte, Schnurre, Feuilleton, Collage, Prosaskizze und Kalendergeschichte eine stattliche Anzahl epischer Kleinformen. Zum anderen beschreitet er auch inhaltlich Neuland. So nähert er sich gleich in mehreren Geschichten dem Hartz-IV-Soziotop – und obwohl sie nicht weiter entfernt sein könnten von Sozialarbeiter-Agitprop, lassen sich diese Erzählungen doch auch als literarisch ambitionierter Kommentar etwa zu solch populistischen „Deppen“-Debatten lesen wie der gerade von unserem Außenminister initiierten.

Nicht zuletzt seine über den Band verteilte „Trilogie der Gewalt“ führt in unmissverständlicher Drastik vor, was die Konsensgesellschaft von den daraus Separierten erwarten darf, wenn diese außer permanenter Diffamierung nichts mehr zu erwarten haben: Sie formen sich nach dem Bild, das sich die Gesellschaft von ihnen macht, werden dem Negativstereotyp folglich immer ähnlicher.

Plebejische Milieus hat Frank Schulz auch schon früher mit Vorliebe, aber vor allem mit liebevollem, humoristischem Gestus beschrieben. Diese Schärfe und Unterkühltheit im Ton – zumindest einiger Erzählungen – ist eine neue, irritierende Facette in seinem Werk.

Frank Schulz: „Mehr Liebe“. Galiani Verlag, Berlin 2010, 304 Seiten, 19,95 Euro