Botschaft unter der Staubschicht

KOSMOPOLITISCHE INTELLEKTUELLE Der britische Historiker Tony Judt liefert mit der Relektüre theoretischer Schriften eine politische Neubewertung des 20. Jahrhunderts

VON DETLEV CLAUSSEN

Der deutsche Titel „Das vergessene 20. Jahrhundert. Die Rückkehr des politischen Intellektuellen“ führt in die Irre. Tony Judts „Reappraisals. Reflections on the Forgotten Twentieth Century“ sagt schon genauer, dass es Judt um Neueinschätzungen wesentlicher Erfahrungen des Short Century geht. Der Systemzusammenbruch 1989 wird als Punkt genommen, von dem aus vieles anders als vorher erscheint. Es handelt sich nicht um vorschnelle Lehren aus der Geschichte, sondern um ein Nachdenken über die Verleugnung möglichen Wissens. Ikonenartig leuchten dem potenziellen Leser auf dem Umschlag Schwarzweißfotos von Primo Levi, Arthur Koestler, Albert Camus und Hannah Arendt entgegen. Tony Judt lädt ein, die Lektüre deren Schriften zu wiederholen; für Jüngere heißt es sogar, damit überhaupt erst zu beginnen.

Wer vor vierzig Jahren mitreden wollte, musste Koestler gelesen haben: Der Roman „Sonnenfinsternis“ und die Essaysammlung „Der Yogi und der Kommissar“ gehörten zum Inventar des Kalten Krieges. Schon das früher geschriebene „Spanische Tagebuch“ lasen nur noch wenige, ohne das aber der Rest kaum zu verstehen ist. Die Relektüre von Koestler lohnt sich; er gilt als Inbegriff des Renegaten – für die einen ein Schimpfwort, für die anderen mit der Aura eines unerhörten Propheten ausgestattet.

Zeit des Vergessens

Es stimmt, viele wollten nicht hören, was er und andere schon in den 1930er-Jahren wahrgenommen hatten. Die 1950er-Jahre waren eine große Zeit des Vergessens. Unendlich fern schien der Spanische Bürgerkrieg, überlagert durch den Weltkrieg und die Schrecken der Konzentrationslager. Der Archipel Gulag war noch gar nicht in seiner Größendimension aufgetaucht; die Spitze des Schreckens war in den Moskauer Prozessen während der 1930er-Jahre sichtbar geworden und erschien später wieder in den stalinistischen Schauprozessen. Diese Erfahrung wurde verleugnet; die Boten der schlechten Nachricht wurden gefeiert, diskreditiert oder ignoriert.

Doch nicht nur den antikommunistischen Intellektuellen erging es so; auch die Zeugen der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager fanden keine Öffentlichkeit mehr. Primo Levi, dessen Name heute jeder kennt, der sich mit dieser Welt beschäftigt hat, verdiente nach der Befreiung seinen Lebensunterhalt als Chemiker; gelesen wurden seine Bücher nicht; er hatte es anfangs sogar schwer, verlegt zu werden. Beide Erfahrungen passten nicht zur der in Ost und West (außer in der BRD) gepflegten Vergangenheitspolitik. Deutschland kommt in Tony Judts vergessenem 20. Jahrhundert so gut wie nicht vor; das ist ja auch nicht vergessen, sondern stand mit dem Fall der Mauer 1989 zum letzten Mal im Mittelpunkt der Weltöffentlichkeit.

Selbst schlechte Biografien nutzt der Rezensent Judt dazu, ein komplexes Spektrum von in Vergessenheit geratenen Intellektuellen zu zeichnen. Auf diese Weise werden in Judts Porträts zentrale Erfahrungen aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts wieder lebendig, die unter einem Berg kulturindustrieller Produktionen unterzugehen drohen. Wer wie Judt in den 1950er-Jahren groß geworden ist, dem erschienen diese Intellektuelle als Überlebende aus der Welt vor dem stalinistischen Terror und dem Griff der Nazis nach der Weltmacht. Judt lebt lange genug in den intellektuellen Zentren der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, New York und Paris, um die Zeugen der gesellschaftlichen Sintfluten noch in ihrer öffentlichen Wirksamkeit oder Ohnmacht erfahren zu haben. Seine Erfahrungen als Studierender und Lehrender in Oxbridge ermöglichen ihm eine bewusste Distanz zum britischen akademischen Establishment. Auch Eric Hobsbawm ist ihm ein Porträt wert – ein Historiker von Weltrang, der als Intellektueller aber für Judt ein „romantischer Kommunist“ geblieben ist. Bei genauerem Hinsehen können einem die Attribute „marxistisch“ und „jüdisch“ problematisch werden. Judt lässt sich nicht blenden, weder von akademischem Renommee noch von publizistischem Erfolg, ihn interessiert die vermittelte Erfahrung. Das macht die Lektüre seines Buchs so anregend, schützt ihn aber auch vor eklatanten Fehlurteilen nicht.

Attacke auf das Business

Die hymnische Anpreisung von Leszek Kołakowskis „Hauptströmungen des Marxismus“ als ein „Monument der modernen Geisteswissenschaft“ fällt aus dem Rahmen. Kann das einem sensiblen und blitzgescheiten Autor wie Judt entgangen sein, dass dieses lieblos gemachte, nicht immer auf der Höhe der besprochenen Theorien sich bewegende und im schrecklichsten Sinne geistesgeschichtlich konventionelle Buch im Stile einer Ideengeschichte nicht einmal Kołakowskis bestes ist, das weder seinen Rang als Philosoph noch als Intellektueller begründen kann?

Man muss dieses unangemessen überschwängliche Lob zu Ende lesen, um herauszufinden, dass es Judt um eine Gegenposition zum akademischen Marxismus von Oxbridge geht, der in persona des Sozialhistorikers E. P. Thompson dem polnischen Emigranten Verrat am Marxismus vorwarf. Ganz bei sich selbst ist Judt dann bei einem Frontalangriff auf den transatlantischen edelmarxistischen Akademiemythos Louis Althusser. Wer die verschütteten Erfahrungen des 20. Jahrhunderts ans Licht bringen will, muss die Konjunkturen des akademisch-publizistischen Showbusiness attackieren. Bereits die großen öffentlichen Debatten der 1950er-Jahre gefährdeten die intellektuelle Unabhängigkeit durch Frontstellungen wie Prokommunismus oder Antikommunismus.

Selbst Hannah Arendts Totalitarismusstudie wurde durch diese Frontstellung entindividualisiert und verzerrt; die Fragen, die sie aufwarf und die bis heute beunruhigen, wurden begraben unter moralisch-politischen Gewissheiten von Leuten, die um den Preis der Wahrheit auf der richtigen Seite stehen wollten. Die intellektuellen Frontlinien nach 1989 berühren einen Intellektuellen, der seine éducation sentimentale im Kalten Krieg erhalten hat, so schmerzlich, weil sie an die Übel des alten Parteigängertums erinnern. Der pseudoliberale Triumphalismus wie seine abstrakte Negation, die strukturell fremdenfeindliche Antiglobalisierungsattacke, haben beide einen geschichtsfeindlichen Kern, der einer Erkenntnis der gegenwärtigen Gesellschaft im Wege steht.

Tony Judts Rezensionsessays, die aus dem Ungenügen an frisch erschienenen Büchern hervorgegangen sind, ermöglichen entprovinzialisierende Orts- und Perspektivenwechsel, die eine Distanz zu den lokalen publizistischen Frontstellungen erlauben. Als Highlights dieses Buchs sind die Essays Tony Judts zu Israel zu werten, die ihm erbitterte Feindschaft von akademisch-publizistischen Watchorganisationen eingetragen haben. Judt, dem jüdische Geschichte und zionistische Tradition vertraut sind, nimmt keine ethnopolitischen Positionen ein, erhebt seine Stimme nicht im Namen einer Gemeinschaft, sondern nutzt sein historisches Wissen, um die existenzgefährdende Uneinsichtigkeit der kämpfenden Parteien zu kritisieren.

Dazu passt eine verständnisvolle Würdigung Edward Saids, dessen Orientalismustheorie Judt ablehnt, ihn aber als New Yorker Kollegen zu schätzen weiß. Das Ganze rundet sich zu einem Bild von einem kosmopolitischen Intellektuellen neuen Typs, der sich nicht mehr ethnogenetisch definiert und durch seine lebensgeschichtliche Vergangenheit determinieren lässt. Die Unsitte einer weit verbreiteten Redeweise vom jüdischen Historiker und amerikanischen Intellektuellen sollte durch die Praxis eines konkreten Kosmopolitismus desavouiert werden, der einen Autor danach beurteilt, was er kenntnisreich zu sagen hat, und nicht danach, woher er kommt und von wem er abstammt. Der Epilog des Buchs, der sich mit der Aktualität der sozialen Frage beschäftigt, kann auch als Prolog einer neuen intellektuellen Praxis gelesen werden, die sich aus den Frontstellungen der ersten zwanzig Jahre des neuen Zeitalters befreit: neoliberaler pseudoindividualistischer Konformismus gegen populistisch-fundamentalistischen Kollektivismus.

Tony Judt: „Das vergessene 20. Jahrhundert. Die Rückkehr des politischen Intellektuellen“. Aus dem Englischen von Matthias Fienbork. Hanser, München 2010, 475 Seiten, 27,90 Euro