Eine seltsam verschraubte Liebe

ENTSAGUNG Wie Liam Pennywell einmal fast sein Leben änderte – „Verlorene Stunden“ von Anne Tyler

Was er nur sehr zögerlich zu geben bereit ist: Interesse, Emphase

VON ANJA MAIER

Liam Pennywell hat es geschafft: Er hat endlich seine Ruhe. Der Mann aus Baltimore hat jetzt sechzig Jahre Leben hinter sich, er hat zwei Ehen vergeigt, seinen Job als Grundschullehrer verloren und ist – weil er nun ein bisschen aufs Geld schauen muss – gerade in eine preiswertere Parterrewohnung umgezogen. Da sitzt er zwischen seinen alten Möbeln, schaut auf den Parkplatz vor dem Fenster und wirkt erstaunlicherweise im Reinen mit sich.

Liam Pennywell, Hauptfigur in Anne Tylers neuem Roman, „Verlorene Stunden“, ist ganz und gar typisch für Tyler. Die US-amerikanische Autorin leistet es sich, ihre zahlreichen Bücher mit scheinbar unspektakulärem, geradezu langweiligem Personal zu füllen. Erwachsene Menschen, die ganz entspannt ihre Neurosen pflegen, die doch nur das Einfache wollen: Ruhe und Gleichmaß.

Aber so lässt die Pulitzerpreisträgerin ihre Leute nicht davonkommen. Wie auch in ihren anderen großen Büchern, „Atemübungen“ oder „Fast ein Heiliger“, rammt sie ihren kleinen Leuten die Wirklichkeit in den Weg. Mal lässt sie Familienstrukturen kaputtgehen, mal die Droge Religion wirken. Und mal, wie in „Verlorene Stunden“, wird der Held Opfer von Gewalt. Gleich in der ersten Nacht in der neuen Wohnung wird Liam Pennywell im Schlaf überfallen. Er wacht am nächsten Tag im Krankenhaus auf, körperlich hat er die Sache gut überstanden. Aber von jetzt an wirkt die Beunruhigung der Gewalterfahrung in ihm, die Erkenntnis, dass das Leben manchmal einfach nicht steuerbar ist, sondern brutal und unberechenbar sein kann.

Nie hat er gefragt nach Sinnhaftigkeit, nie sich selbst in Beziehung gesetzt zu seinem einen Leben, seinen Kindern, Frauen, Jobs. Als gebe es da noch eine weitere Möglichkeit. Aber nun – körperlich wiederhergestellt – treibt ihn der unbedingte Wille an, zu erfahren, was in jener Nacht tatsächlich passiert ist, wer ihm das angetan hat und warum. Eine späte Suche nach verlorener Zeit beginnt.

Es ist die große Gabe von Anne Tyler, derlei Ungleichgewichtigkeiten akribisch auszuleuchten. Immer sind ihre Protagonisten beides: gefügige Wesen und egozentrische Glückssucher. Liam Pennywell stellt sie zu diesem Zweck die deutlich jüngere Eunice zur Seite. Diese Frau tritt in sein ruhiges Leben wie eine Verheißung – und wird schnell zur Bedrohung. Denn Eunice will etwas von Liam, was er viele Jahre verdrängt hat und was er nur sehr zögerlich zu geben bereit ist: Interesse, Emphase, ein bisschen Wahnsinn. Sie liebt diesen arbeitslosen alten Lehrer auf ihre seltsam verschraubte Art. Sie will ihn.

Liam ist dermaßen damit beschäftigt, die Risiken seiner aufkeimenden Gefühle abzuwägen, dass er glatt übersieht, was doch offensichtlich ist. Dieser Mensch, diese ungelenke Eunice, ist längst gebunden. Als der Betrug offenbar wird, schreckt der verzagte Mann zurück und versinkt erneut in seiner Lethargie des kleinen Mannes. Und das, obwohl Eunice bereit ist, den Sprung aus ihrer Ehe zu wagen.

Anne Tyler denunziert das nicht. Sie lässt ihre Leser tief eintauchen in die Welt dieses Ostküstlers, beleuchtet aus seiner Perspektive das Für und Wider, seine Laschheit und die Sehnsucht nach Ruhe und Verlässlichkeit, die er doch immer nur in sich selbst zu finden meint. Das ist traurig zu lesen. Man lässt diesen Liam Pennywell ungern zurück.

Anne Tyler: „Verlorene Stunden“. Aus dem Amerikanischen von Simone Jakob. Kein & Aber, Zürich 2010, 352 Seiten, 19,90 Euro