Reisende soll man aufhalten

GASTLAND IN LEIPZIG Längst hat sich in Serbien eine neue Generation von Autoren einen Namen gemacht. Zwei von ihnen wurden nun ins Deutsche übersetzt – was sich gelohnt hat

Während des Lesens begegnet er verschiedenen Personen, die den mysteriösen Roman ebenfalls gerade lesen, und zwar nicht zum ersten Mal

VON DORIS AKRAP

Wer Jim Jarmuschs Film „Stranger than Paradise“ von 1984 kennt, der kennt Cleveland, Ohio. Und wer Cleveland, Ohio kennt, kennt das Leben. Doch man muss nicht in Cleveland, Ohio gewesen sein, um das Leben zu kennen. Denn das unterscheidet sich in der Regel nicht groß zwischen New York, Cleveland und einem serbischen Provinzstädtchen. Und auch in Milovan Danojlic Roman „Mein lieber Petrovic“, der am 4. Dezember im Suhrkamp Verlag erscheint, steht Cleveland, Ohio als Chiffre für das gewöhnliche Leben.

Tatsächlich lebte und lebt in Cleveland, Ohio eine größere Gruppe von Einwanderern aus dem ehemaligen Jugoslawien. In dem Roman des serbischen Schriftstellers sind Mihailo Putnik und Steve Petrovic zwei dieser Einwanderer, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus der serbischen Provinz in die USA gingen, wo sie Universitätskarriere machten. Putnik, mittlerweile pensioniert, kehrt in den 1970er Jahren in seinen Geburtsort in Serbien zurück, sein Freund Petrovic möchte ihm nun einige Jahre später nachfolgen, sich ebenfalls in seinem Heimatdorf zur Ruhe setzen. Doch Putnik rät ihm dringend davon ab. Jahrelang schreibt er seinem Freund, der immer noch in Cleveland, Ohio ist, ausführliche Briefe, in denen er von den schrecklichsten Winkeln des Dorfes, den dumpfesten Nationalisten, der bösartigsten Dummheit und der provinziellsten Langeweile berichtet, die ihm das Leben in der serbischen Provinz zur Hölle macht. Aus zehn Briefen besteht der Roman, in dem der Reisende (Putnik bedeutet auf Serbisch Reisender) nicht nur über die politische, ökonomische und intellektuelle Misere des Landes und der Leute verzweifelt berichtet – selbst an Pflaumenbäumen, Hausmäusen, Bergen und Flüssen lässt er kein gutes Haar.

Angst und bange

Doch Putnik sehnt sich mitnichten nach dem Leben in Ohio zurück. Im Gegenteil, die zentrale Botschaft an den lieben Petrovic ist die traurige Erkenntnis: „Für uns gibt es das richtige Leben nicht […] Wenn du die Deinen hörst, wir dir schlecht; wenn du die anderen hörst, wird dir angst und bange“.

Erschienen ist Danojlic Roman in Serbien bereits 1990, also im letzten Jahr der Sozialistischen Föderation Jugoslawien. Der serbische Schriftsteller Danojlic ist jedoch nicht der Einzige, der nun zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt wird. Im kommenden Frühjahr werden neben einigen bekannten Schriftstellern wie Bora Cosic, David Albahari oder Dragan Velikic auch zahlreiche hierzulande völlig unbekannte serbische Autoren zum ersten Mal einem deutschen Publikum zugänglich gemacht werden. Denn Serbien ist Gastland auf der Leipziger Buchmesse, und das serbische Kultusministerium und das literarische Netzwerk traduki förderten insgesamt die Übersetzung von 20 Titeln.

Auch Goran Petrovic Roman „Die Villa am Rande der Zeit“ ist in diesem Rahmen übersetzt worden und seit der vergangenen Woche bereits im Buchhandel erhältlich. In Serbien gehört Petrovic zu einem der meistgelesenen zeitgenössischen Schriftsteller, „Die Villa am Rande der Zeit“ ist dort ein Bestseller. Verständlich, denn es ist ein im Wortsinn bezauberndes Buch.

Verwirklichung des Texts

Es erzählt von einem Lektor, der den Auftrag hat, einen alten Roman zu überarbeiten, das Werk zu entstauben. Doch als der Lektor zu lesen beginnt, erwacht das Buch zum Leben. Während des Lesens begegnet er verschiedenen Personen, die den mysteriösen Roman ebenfalls gerade lesen und zwar nicht zum ersten Mal – die Schicksale sämtlicher Parallelleser sind auf verschiedene Art und Weise mit dem Roman verbunden.

So trifft Lozanic die alte Dame Natalija Dimitrijevic im Garten der Villa, die im Zentrum des Romans im Roman steht. Die Dame gibt dem Lektor die Anweisungen, die Pergola abzureißen, da sie die noch nie gemocht habe. Der Hintergrund: Natalija war heimlich in den Autor des Romans verliebt, der diesen allerdings für eine andere Frau schrieb.

Was zunächst vielleicht bemüht klingen mag, ist es aber gar nicht. Petrovic führt den Leser in ein abenteuerliches Labyrinth verschiedener miteinander in Verbindung stehender Schicksale, in das man sich von Zeit zu Zeit selber verliert. Petrovic schafft es, dass sich die Leidenschaft, die seine im Roman des Romans lesenden Figuren entwickeln, auch auf seine echten Leser überträgt.

Vielleicht sind die besten zeitgenössischen serbischen Autoren jene, deren Ziel in der Verwirklichung des Textes, nicht in der Deutung der Wirklichkeit liegt, schreibt der serbische Autor Dragoslav Dedic in der aktuellen Ausgabe der Neuen Rundschau (S. Fischer Verlag, Heft 3/2010, 12 Euro). Das Heft widmet sich ebenfalls dem Schwerpunkt serbischer Literatur und hat zahlreiche jüngere, bislang nicht ins Deutsche übersetzte Prosa- und Lyrikautoren versammelt.

Große historische Romane zeitgenössischer serbischer Autoren wird man tatsächlich nicht erwarten dürfen – und das ist gut so. Denn die serbische Literaturszene hat weit mehr zu bieten.

Goran Petrovic: „Die Villa am Rande der Zeit“. Aus dem Serbischen von Susanne Böhm-Milosavljevic. dtv premium, München 2010, 400 Seiten, 14,90 Euro

Milovan Danojlic: „Mein lieber Petrovic“. Aus dem Serbokroatischen von Jelena Dabic und Mascha Dabic. Suhrkamp, Berlin 2010, 311 Seiten, 24,90 Euro. Erscheint am 4. 12.