Expedition durch die Einsamkeit und die innere Wildnis

GEFÜHLSSEKTION Ein Vater, ein Sohn und eine Insel in Alaska: David Vanns kompromissloser Roman über ein verpfuschtes Leben – „Im Schatten des Vaters“ ist eine Entdeckung

Die schlimmsten Wendungen geschehen mitten im Satz. Sachlich werden sie registriert, schmucklos mitgeteilt. Mit einem schlichten „und“ kann sich in David Vanns Roman „Im Schatten des Vaters“ alles ändern.

„Sein Vater legte das Gewehr hin, stand auf, trat zu nah an den Rand des schmalen Kliffs und fiel hinunter.“ Was folgt, ist ein atemloser Überlebenskampf, und das ist nur die erste schlimme Wendung. Roy, gerade mal 13, hat sich von seinem Vater überreden lassen, mit ihm ein Jahr lang auf einer einsamen Insel im südlichen Alaska zu leben. Der Vater sagt, er wolle mehr Kontakt zu seinem Sohn, in Wahrheit will er aber nur sich selbst in der Reinheit der Wildnis retten. „Sukkwan Island“ heißt die Geschichte im Original. Der Vater überlebt den Sturz, Roy kann ihn mit letzter Kraft zu ihrer windschiefen Hütte schleppen, und der Vater kommt allmählich wieder zu sich. Aber, was viel schlimmer ist als die äußeren Verletzungen: Roy wird den Verdacht nicht los, dass sein Vater nicht hinuntergefallen, sondern gesprungen ist. Was ein Selbstmordversuch wäre und ein Alleinlassen des Sohnes.

David Vann, 1966 in Alaska geboren, in San Francisco lebend, ist ein großartiger Schriftsteller. Mit wenigen Strichen, knappen Dialogen und ohne rhetorische Tricks kann er einen auf die Insel versetzen. Der Wald. Der Regen. Der Himmel. Die Bären. Das Plumpsklo. Das Lachsefischen. Eine Standardanforderung an solche dichten, novellenartigen Romane ist, dass die Naturbeschreibungen innere Zustände der Figuren evozieren. David Vann macht das virtuos, vor allem aber, ohne dass sich diese Virtuosität in den Vordergrund drängen würde.

Wichtiger als die äußere ist ihm sowieso die innere Wildnis. „Im Schatten des Vaters“ ist ein hartes, kompromissloses Buch über ein verpfuschtes Leben. Allnächtlich muss Roy sich anhören, wie sein wimmernder Vater seinen beiden kaputten Ehen hinterhertrauert – und darüber den letzten Kontakt zu seinem Sohn verliert. Konsequent verfolgt Vann eine Dramaturgie des schlimmstmöglichen Ausgangs. Es ist dann der Sohn, der Selbstmord begeht, nach wieder so einem „und“: „Langsam löste er den Hahn, richtete die Pistole weg vom Körper, dann spannte er ihn wieder, hielt sich den Lauf an den Kopf und drückte ab.“

David Vann verschiebt in diesem Buch reale Erlebnisse. Im Netz kann man nachlesen, dass der Vater des Schriftstellers tatsächlich Selbstmord verübte – zwei Wochen nachdem er seinen damals 13-jährigen Sohn gefragt hatte, ob er mit ihm ein Jahr allein auf einer Insel leben wolle, und der abgelehnt hatte.

Aber es ist nicht der Plot, es ist die Sprache, die die Wucht und Intensität dieses Buches erzeugt. Allmählich – während der Vater im zweiten Teil vergeblich versucht, wenigstens die Leiche des Sohnes in die Zivilisation zurückzubringen – gleitet das Buch von einem gesteigerten Realismus hinüber zu Szenen, die immer noch realistisch anmuten, in denen aber hinter einem Schleier von schützender Gefühlstaubheit zugleich albtraumhaft Einsamkeit und Schuldfragen arbeiten. David Vann kann Gefühle bei lebendigem Leib sezieren und die Schmerzen des Sezierens dabei noch einarbeiten. Das, was man neben seiner Sprachkunst am meisten an dem Buch bewundert, ist seine Unerschrockenheit. Man fühlt sich beim Lesen wie auf einer Expedition durch etwas wirklich Gefährliches. Und das Gefährliche ist nicht Alaska. Das ist man selbst.

Im Original wurde dieser Kurzroman von fünf Kurzgeschichten in einem Band begleitet. Fragwürdig, diese Rahmung wegzulassen; aber dafür ist das Buch hervorragend übersetzt. Es ist eine Abenteuerfahrt durch ein fremdes Leben, das einem sehr nahekommt, und eine Entdeckung. DIRK KNIPPHALS

David Vann: „Im Schatten des Vaters“. Aus dem Amerikanischen von Miriam Mandelkow. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011, 186 Seiten, 17,90 Euro