Ganz alltägliche Gespenster

ENTFREMDUNG Wer ist schon in seinem eigenen Leben zu Hause? Bei Peter Stamm ist es jedenfalls niemand: „Seerücken“

VON EKKEHARD KNÖRER

Darf man Peter Stamm, den literarisch weltläufigen Schweizer, als Heimatschriftsteller begreifen? „Seerücken“ heißt sein neuer Erzählband, Seerücken ist die Landschaft im Thurgau, bodenseenah, in der er selbst aufwuchs. Viele der Erzählungen spielen erkennbar in dieser Gegend, auch wenn Ortsnamen kaum je genannt sind. In „Siebenschläfer“ begibt sich ein Mann als Bearbeiter von Grund und Boden ausdrücklich zurück an den Ort seiner Kindheit. In der Nähe des Sees liegt das Anwesen, auf dem er das Gemüse anbaut, von dessen Verkauf er zu leben versucht. Er ist der jüngere Sohn, der den Hof der Eltern nicht erbt. So übernimmt er mit dem Geld der Eltern ein eigenes Gut und schlägt als Liebhaber von Frucht und Gemüse und Verächter der Tierwelt doch aus der Art. Nicht der Lauf der Dinge hat ihn zum Bauern gemacht, sondern ein zwiespältiger Entschluss zur Übernahme der Tradition und zur gleichzeitigen Abweichung von ihr.

Wenn Heimat heißt, dass man an einem Ort oder gar im eigenen Leben wie selbstverständlich zu Hause ist – dann ist Stamm der Autor der Unmöglichkeit jeder Heimat: ein aufmerksamer Beobachter kleiner und großer Spuren von Unbehaustheit in alltäglichen Existenzen. All seine Texte durchzieht das Wissen um eine grundsätzliche Kontingenz als Signatur einer unhintergehbaren Gesellschaftsmoderne. In die Heimat als Zustand geht es niemals zurück. Das Leben, wie man es halb selber entscheidend gewählt hat und wie es halb eben so kam, könnte stets auch ein anderes sein, im Großen wie im Kleinen. Im jüngsten Roman „Sieben Jahre“ drehte sich alles um einen Mann, der gelähmt scheint von der unmöglichen Wahl zwischen zwei Formen der Liebe. „An einem Tag wie diesem“ schilderte zuvor den Ausbruch eines Mannes im mittleren Alter aus der eigenen Existenz.

Die in „Seerücken“ versammelten Erzählungen sind meist etwas kleiner dimensioniert, ausnahmslos aber porträtieren sie gewöhnliche Menschen, die sich aus dem Normalen, und sei es ein Stück nur, entfernen. Um einen Pfarrer geht es, den seine Gemeinde nicht akzeptiert; eine Klavierlehrerin, deren Träume recht brutal scheitern; eine Frau, die nach drei Jahren Waldaufenthalt den Schatten dieser Auszeit nicht mehr loswird; ein junges Paar, das seiner Beziehung noch unsicher ist; ein älteres, bei dem beide sich erst in der Konfrontation mit einer nebenan wohnenden Familie wieder näher kommen; und ein noch älteres, bei dem der Mann seine Frau zu verlieren droht.

Stamm-Protagonisten ähneln einander, vielleicht sogar zu sehr. Zur Reflexion ihrer Lage in Ansätzen immer fähig, aufmerksam fürs Detail, das vom Gewöhnlichen abweicht, verunsichert, ob es weitergehen kann wie bisher, selten jedoch bereit, Initiative zu ergreifen: etwas verlorene, tendenziell anhedonische Mittelschichtexistenzen. Irgendwie geht es meistens um Liebe und Partnerschaft, nie erfüllen sich die damit verbundenen Träume. Zwischen zaghafter Hoffnung und moderater Verzweiflung geht es in Leben, in denen halb unglückliche Menschen sich und einander fremd sind, werden, bleiben, dahin.

Die entfremdetsten unter diesen eigentümlichen Existenzen sind in der Konsequenz am ehesten eines: Gespenster. Figuren, die nirgendwohin unterwegs und in ihren eigenen Leben und in dem anderer mehr ab- als anwesend sind. Am prägnantesten gelingt die Darstellung dieses Gespensterhaften in zwei der besten Texte des Bandes. In „Sommergäste“ begibt sich ein Mann in ein abgelegenes Kurhaus. Dort trifft er auf keine Spuren von Leben, nur eine Frau namens Ana, die ihn einlässt, sich entzieht, wieder auftaucht und am Ende spurlos verschwunden sein wird. Flüchtig, kaum mehr als eine Fantasie. Nur auf den ersten Blick aus gröberem Stoff scheint in „Eismond“ ein Pförtner, der sich in den Ruhestand verabschiedet und nach dem Tod seiner Frau auf dem Gelände, das er einst beaufsichtigt hat, wortlos und unansprechbar umgeht.

Peter Stamms große Kunst besteht darin, in wenigen Sätzen einen Status quo zu umreißen, in den er dann wie nebenbei etwas einbrechen lässt: eine Befremdung, eine Irritation, eine Abweichung, ein unerklärliches Ereignis. Stets bleibt die Stillage nüchtern. Kurz und über die Maßen unspektakulär sind die Sätze, kaum aus der Ruhe zu bringen, dabei keineswegs sonderlich elegant. Peter Stamm hat einst Buchhalter gelernt, ganz falsch wäre es nicht, von gehobener Buchhalterprosa zu sprechen.

Gerade darin liegt aber etwas Faszinierendes. Für die Beunruhigungen, von denen Stamm wieder und wieder berichtet, gibt es in der Sprache dieses Erzählers keine Entsprechung. In ihrer dahingleitend nebenordnenden Bewegung vom Realen zur Fantasie, von Kleinigkeiten zu Hauptsachen und zurück entwickeln diese Texte einen oft bezwingenden Sog. Ihre eigentliche Spannung jedoch entwickeln sie in der Diskrepanz von inhaltlicher Irritation und Ruhe der Form. Wie wenig die Nachrichten aus einer beschädigten Welt die Sprache des Berichterstatters verstören, ist das eigentlich Befremdliche. Im Grunde aber wird just in dieser zwanghaft zu nennenden Ruhe die Entfremdung nur umso deutlicher.

Peter Stamm: „Seerücken“. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011, 190 Seiten, 18,95 Euro