Im langen Schatten

AUFARBEITUNG Was passiert, wenn die Hinterbliebenen der RAF-Täter und der RAF-Opfer das Gespräch aufnehmen? Julia Albrecht und Corinna Ponto dokumentieren ihren Weg zu ein wenig Normalität

VON WOLFGANG GAST

Gewalt und Wahn“: Mit diesen Worten hat Julia Albrecht das Kapitel überschrieben, in dem sie sich mit dem „Schweigegelübde“ der ehemaligen Mitglieder der Roten Armee Fraktion (RAF), darunter ihre Schwester Susanne Albrecht, auseinandersetzt.

Anlass ist ein anonymes Schreiben von „einigen, die in unterschiedlichen Zeiten in der RAF waren“, das im Mai des vergangenen Jahres im Vorfeld des Prozesses gegen die frühere RAF-Frau Verena Becker in der Jungen Welt unter dem Titel „Von uns keine Aussagen“ veröffentlicht wurde. „Keine Aussagen zu machen, ist keine Erfindung der RAF“, heißt es darin. Und: „Es hat die Erfahrung der Befreiungsbewegungen und Guerillagruppen gegeben, dass es lebenswichtig ist, in der Gefangenschaft nichts zu sagen, um die, die weiter kämpfen, zu schützen.“

Abgesehen davon, ob es sich bei der RAF jemals um eine Befreiungsbewegung gehandelt hat und ob es aus der im April 1998 offiziell aufgelösten Truppe noch jemanden geben sollte, der „weiter zu kämpfen“ beabsichtigt – Julia Albrecht stößt sich vor allem an der Haltung, die hinter dem Schreiben der Exmilitanten steht. Was sie nicht verstehe, schreibt sie: „Dass diese Generation, die damals angetreten war mit der Anklage, dass die Naziverbrechen nicht aufgearbeitet wurden […], dass diese Generation in Bezug auf ihre eigenen Verbrechen eine aktive Aufarbeitung verweigert.“

Ihr absolutes Unverständnis äußert Julia Albrecht in einem Brief an Corinna Ponto, die Tochter des Bankiers Jürgen Ponto, der am 30. Juli 1977 bei dem Versuch seiner Entführung von Mitgliedern der RAF erschossen wurde. Auf geradezu tragische Weise sind die Lebensläufe von Julia Albrecht und Corinna Ponto verwoben. Die Familien der beiden waren bis zum Mord an dem Bankier aufs Engste befreundet; man fuhr gemeinsam in den Skiurlaub und beriet sich gegenseitig in Fragen der Karriereplanung. Ponto, Vorstandsvorsitzende der Dresdener Bank, übernahm die Patenschaft Julia Albrechts, und der renommierte, auf Seerecht spezialisierte Hamburger Anwalt Hans-Christian Albrecht wurde Patenonkel Corinna Pontos.

Die Familienbande wurden aber jäh durchtrennt, denn es war Julias ältere Schwester Susanne, die als Freundin der Pontos dem RAF-Kommando den Zugang zum Haus der Bankers verschaffte. Danach gab es weder Treffen noch Korrespondenzen zwischen beiden Familien. Die eine kämpft mit Schuldvorwürfen, die andere mit Trauer.

30 Jahre später nimmt Julia Albrecht in einem Brief den Kontakt zu Corinna Ponto auf. Ein Briefwechsel entspinnt sich, eine erste Begegnung findet Ende 2007 auf dem Pariser Platz in Berlin unter freiem Himmel statt. Sie berichten sich, welche weitreichenden Folge der Mord für ihr weiteres Leben hatte. Am Ende ist daraus ein ungewohnt offenes Buch entstanden.

Julia Albrecht, Jahrgang 1964, hat in den vergangenen Jahren als Journalistin und Juristin unter anderem für die bündnisgrüne Bundestagsfraktion gearbeitet. Sie beschreibt eindrucksvoll, wie schwer es ihr gefallen sei, ihre Schwester nicht bloß als ein verführtes Opfer der RAF zu sehen. Corinna Ponto studierte Theater- und Musikwissenschaften. Sie ist Opernsängerin und sieben Jahre älter als Julia Albrecht. Sie schildert der Jüngeren, wie ihre Familie vor dem RAF-Terror ins Ausland „flüchtete“. Und wie ihr „der Atem stockte“, als sie bei einem Besuch bei ihrer Mutter auf Long Island 1993 in einem US-Magazin einen ausführlichen Bericht über die in der DDR festgenommen Susanne Albrecht zu lesen bekam. Und dass sie heute zu der Überzeugung gelangt sei, dass der Staatssicherheitsdienst der DDR einen immensen Einfluss auf die RAF ausgeübt habe.

So einfühlsam ungeschminkt der „Dialog“ die vorsichtige Annäherung der beiden Patentöchter dokumentiert, so scheitert er doch an anderer zentraler Stelle. Denn die Frau, um die sich alle Handlungen ranken, kommt gar nicht vor: Susanne Albrecht, die nach Verbüßung ihrer Haftstrafe heute unter dem Namen ihres Ehemannes in Bremen als Lehrerin tätig ist. Wie die meisten der Ehemaligen aus der Stadtguerilla weigert sie sich, über die Tat von 1977 zu reden oder zu erklären, wie sie heute dazu steht.

So ist es nicht verwunderlich, dass „Patentöchter“ keinen Beitrag zu der Frage leistet, wie heute mit den früheren RAF-Mitgliedern und den nicht aufgeklärten Mordanschlägen verfahren werden sollte.

Einen Vorschlag dazu hat Carolin Emcke, Journalistin und ebenso ein Patenkind (des RAF-Opfers Alfred Herrhausen), vor drei Jahren in ihrem Buch „Stumme Gewalt. Nachdenken über die RAF“ unterbreitet: Es soll eine Art Forum der Aufklärung eingerichtet werden, in dem ein Tausch stattfinden kann. Die Justiz verzichtet auf der einen Seite auf Strafverfolgung, die Exkämpfer brechen im Gegenzug ihr Schweigen, erklären sich den Hinterbliebenen der RAF-Opfer. Emcke weiß um die Einwände. Ein Rechtsstaat braucht gute Gründe, um auf Strafverfolgung zu verzichten. Die Gefahr, dass die RAF zu etwas Besonderem geadelt und ihre Hybris nachgerade bekräftigt wird, liegt auf der Hand. Auch ob die RAF-Kämpfer souverän genug wären, auf ihren letzten Halt, ihr kollektives Schweigen, zu verzichten, bleibt offen.

Julia Albrecht, Corinna Ponto: „Patentöchter. Im Schatten der RAF – ein Dialog.“ Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011, 240 Seiten, 18,95 Euro