Mit verächtlicher Liebe

SPASSVÖGEL Kiran Nagarkar lässt das Erzählen Purzelbaum schlagen in der labyrinthischen Stadt: der Mumbai-Roman „Die Statisten“

VON SHIRIN SOJITRAWALLA

Wohl alle indischen Schriftsteller, die Mumbai hervorgebracht oder angezogen hat, wussten und wissen die Stadt literarisch zu würdigen. Angefangen bei Salman Rushdie, der schönste Momente seiner Romane dort ansiedelte. Auch Vikram Chandra und Rohinton Mistry verschrieben sich ihren Geheimnissen und Realitäten. Suketu Mehta recherchierte ihrem Irrsinn grandios hinterher. Aravind Adiga verbeugte sich erst kürzlich vor ihr, und Kiran Nagarkar,1942 in Mumbao geboren und geblieben, stellte seine Stadt schon in seinem Roman „Ravan und Eddie“ in den Mittelpunkt. „Die Statisten“, der neue Roman, führt die Geschichte um die zwei ungleichen Söhne der Stadt nun kraftvoll fort. Ravan, der einfältige Hindujunge, und Eddie, das aufgeweckte katholische Bürschchen. Beide wohnen im selben Mietshaus, und das Schicksal kettet sie früh aneinander. Ein Sündenfall – Eddies Vater musste sterben, weil Ravan als Baby vom Balkon auf ihn herabfiel – bildet schon im ersten Roman den Auftakt.

„Die Statisten“ beginnen mit dem beinahe wortgleichen Kapitel. Doch während im ersten Roman die Teenagerjahre der beiden im Zentrum des turbulenten Geschehens standen, begleitet Nagarkar sie diesmal als junge Erwachsene. Ravan träumt von einer Karriere als Filmstar, und Eddie möchte so etwas wie ein zweiter Elvis werden. Er verdingt sich in einer Hochzeitsband und schlägt sich ansonsten in einer sogenannten Flüsterkneipe die Nächte um die jungen Ohren. In einer Kneipe also, in der trotz Prohibition der Alkohol in Strömen in die Gläser fließt.

Es sind die späten sechziger Jahre, in denen Mumbai noch keine globalisierte Metropole war, sondern eine Stadt, die sich wirtschaftlich vom Rest der Welt abkapselte. Der Blick nach Westen war damals wohl so sehnsuchtsvoll wie heute. Auch Ravan und Eddie richten ihre Augen auf Hollywood und in andere ferne Welten, wobei sie es über die Länge des mehr als 600 Seiten währenden Romans nicht weiter als einmal kurz nach Mauritius bringen. Auf der Insel tummeln sich freilich so viele Inder, dass sie von Indien aus gesehen nicht als Ausland gelten kann.

Man kann die beiden als Pechvögel bezeichnen, die ab und an eine Glückssträhne haben. Ein allwissender Erzähler, bei dem es sich gut und gern um den lieben Gott persönlich handeln könnte, beäugt sie abwechselnd nach Art einer Parallelmontage und verzögert den Moment ihres Aufeinandertreffens, indem er ihre Leben immer enger führt, bis sie nicht mehr anders können, als Seite an Seite ihren Mann zu stehen. Mitunter fallen beide in die Hände von ausgefuchsten Nymphomaninnen, was dem Spaßvogel Nagarkar die Gelegenheit gibt, aus dem Humorvollen zu schöpfen. Dabei erweist er sich wieder einmal als Meister des Komischen, der filmreife Szenen für seine Schützlinge erschafft.

So richtig ernst nimmt Nagarkar diesmal gar nichts, wobei die satirische Raffinesse seines Schreibens darin besteht, alles und jedem in einem verächtlichen Satz seine Liebe zu erklären. Sei es der Stadt Mumbai, deren Widerwärtigkeiten und Schönheit er in- und auswendig kennt, sei es dem Genre des Hindi-Films, über das sich Nagarkar lustig macht, ohne seine Faszination verheimlichen zu können.

Ravan und Eddie stranden in den Filmstudios Bollywoods, um sich dort als Statisten zu verdingen, was eine schöne Metapher für ihren Status im eigenen Leben ist, das ihnen eine Hauptrolle hartnäckig verwehrt. Nagarkar gibt Einblick in die größte Filmindustrie der Welt mitsamt ihren mafiatauglichen Strukturen und unbarmherzigen Standards. Dabei unterbricht sein allzu wissender Erzähler seinen Redefluss immer mal wieder mit fast lexikalischen Einschüben, wie er das auch schon im Vorgängerroman machte: Versuche über dies und das, wie etwa eine hinreißende Grübelei über das Mumbaier Taxi.

Die Stadt lernt man diesmal aus allen Richtungen kennen: von ihren Schokoladenseiten wie Marine Drive und Malabar Hill über ihre Schmuddelecken wie die Falkland Road bis hin zu ihren touristischen Sehenswürdigkeiten wie den Dhobi Ghats, wo die Stadt öffentlich ihre dreckige Wäsche wäscht. Nagarkar kann seine Liebe zu dieser Stadt, die seinen Bewohnern so viel abverlangt, nicht verhehlen.

Seine beiden Kleindarsteller schickt er in ihr herum wie in einem Labyrinth. Dass ein Statist das Gegenteil von einem Star ist, müssen sie am eigenen Leib erfahren. Saukomisch begleitet Nagarkar die beiden Jungspunde, wobei er ähnlich wie die zwei immer wieder zur Höchstform aufläuft, sobald die Handlung unter die Gürtellinie gerät.

Dabei spielt er mit Elementen des Schelmen- wie des Künstlerromans und legt einen purzelbaumschlagenden Realitätssinn an den Tag. Das vorläufige Ende seiner Protagonisten gestaltet er dann in beinahe filmtauglicher Happy-End-Manier. Zu schön, um wahr zu sein, lässt er die Lebensläufe der beiden in die Härten der Realität einrasten.

Kiran Nagarkar: „Die Statisten“. A. d. Engl. von Giovanni und Ditte Bandini. A1 Verlag, München 2012, 640 S., 28 Euro