Melancholie reloaded

NEBENSCHAUPLÄTZE Anne Weber lässt in der Bretagne Goldfische lärmen und einen Einzelgänger in Paris das große Glück antesten. Endstation: „Tal der Herrlichkeiten“

In der Bretagne irgendwo, mit dem Blick auf das Meer, fällt ein stiller Spaziergänger einem Kuss zum Opfer. Ganz ohne Vorwarnung hatten sich die Lippen einer fremden Frau auf seinen Mund gedrückt. Sperber, so heißt der Spaziergänger, ist ehrlich empört. Denn gebeten hat er nicht darum. Und Anne Weber lässt im Roman „Tal der Herrlichkeiten“ 250 Seiten Raum für die Nachwehen eines Augenblicks, dessen Urheberin längst wieder verschwunden ist.

Sperber könnte gestern gelebt haben und genauso gut vor hundert Jahren. Denn die Welt, die Anne Weber beschreibt, ist zeitlos und fast märchenhaft melancholisch. Raue Küstentage, streunende Katzen und Fledermäuse sind genauso Teil davon wie die Gedanken, die man sich über das korrekte Tragen eines Baguettes machen kann. Die seit knapp dreißig Jahren in Paris lebende Autorin und Übersetzerin erzählt erst mal keine Liebesgeschichte, sondern schafft den fruchtbaren Nährboden dafür.

Ihr Sperber ist ein ziemlich verschrobener Typ. Ein Steppenwolf, der in der symbolistischen Lyrik des Franzosen Max Jacob nach Zukunftsweisungen sucht. Der seine Tage mit etlichen Ticks, mit Fingertippen, mit dem Zählen von Schritten und Atemzügen verbringt, weil sie ihm das Gefühl geben, alles unter Kontrolle zu haben. Doch Anne Weber sitzt am längeren Hebel. Wie einen Spielball wirft sie ihren Protagonisten von einem Nebenagiteur zum nächsten und spiegelt in jedem Fingerbreit Natur seine Stimmung wieder. Erst kurz vor dem emotionalen Overload rudert sie zurück und spielt Schicksalsgöttin: Der Kuss! Der Schock! Und Sperbers dringlicher Wunsch, die unverschämte Unbekannte wiederzusehen. Sperber setzt sich in den Zug und tauscht, auf den Spuren der Küsserin, den Gezeitenrhythmus der französischen Küste gegen den Puls der Metropole ein. In Paris verlieben sich die beiden, und Weber wartet mit einer Wagenladung mikroskopischer Glücksmomente auf. Haarscharf, aber präzise schlittert sie dabei am Kitsch vorbei. Bald fängt der Leser an, in Metaphern nach Hinweisen auf den Fortgang der Geschichte zu suchen. „Gefangen im Bruchteil einer Ewigkeitssekunde“ dämmert Sperber zuletzt durch mythologische Welten. Da ist sie wieder, die zentnerschwere Melancholie. Und diesmal zieht Weber alle Register.

Strandtage, Liebe, Traurigkeit – im „Tal der Herrlichkeiten“ liefert die Autorin dem Leser eine Aneinanderreihung wohldosierter Gefühlsextreme. Wir erleben Sperber himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt – bis er zuletzt wieder am Strand spazieren geht. Das Gleiche ist es trotzdem nicht mehr. SARAH ZIMMERMANN

Anne Weber: „Tal der Herrlichkeiten. Fischer, Frankfurt a. M. 2012, Seiten, 18,99 Euro