Ein Kosmos von Parallelwelten

SYRIEN Kristin Helberg hat sieben Jahre lang aus Syrien berichtet und zieht in ihrem Buch Bilanz. Je länger der Konflikt dort dauert, desto mehr droht dem Land der Zerfall

VON BEATE SEEL

Als Journalistin schmerzt es, sieben Jahre in einem Land zu leben und dann die Revolution aus der Ferne erleben zu müssen“, schreibt Kristin Helberg in der Einleitung ihres Buchs „Brennpunkt Syrien. Einblick in ein verschlossenes Land“, in dem sie die Entwicklung des Landes seit dem Amtsantritt von Präsident Baschar al-Assad im Jahr 2000 nachzeichnet. Helberg hat von 2001 bis 2008 in Syrien gelebt und aus dem „Schurkenstaat“ berichtet. Ihr letzter Versuch einzureisen, endete im April 2011 auf dem Flughafen von Damaskus. Heute wohnt sie in Berlin und verfolgt im Internet gebannt die Ereignisse in einem Land, das dieser Tage nur mit Schreckensmeldungen von sich reden macht. Und keiner weiß, wohin es steuert.

Man merkt dem Buch an, dass Helberg gern in Syrien gelebt und dort viele Freunde gewonnen hat. Insofern ist es auch eine vorläufige Bilanz ihrer Erfahrungen in und ihrer Auseinandersetzung mit Syrien. Ihr anschauliches und zum Teil in der ersten Person geschriebenes Buch ist nicht chronologisch, sondern thematisch gegliedert. In einzelnen Kapiteln – über die Entwicklung des Regimes, das konfessionelle und ethnische Mosaik, die Struktur der Opposition oder die regionalen Rolle des Landes – schlägt sie jeweils den Bogen zur heutigen Situation.

Dabei verstellt die Tatsache, dass die Autorin politisch aufseiten der Revolution steht, ihren Blick nicht. Das zeigt sich, wenn sie über die Hoffnungen auf eine politische Lockerung beim Amtsantritt von Assad schreibt, den Versuch einer vorsichtigen wirtschaftlichen Öffnung oder jene Momente auflistet, in denen der Präsident einen anderen Weg hätte einschlagen können.

Hinsichtlich des Aufstands, der Mitte März 2011 begann, war der groß angelegte Angriff der Regierungstruppen auf die Oppositionshochburg Hama im Juli des gleichen Jahres ein entscheidender Meilenstein. „Aus heutiger Perspektive erlebte die Revolution damals eine Wende. Die Hoffnung auf landesweite friedliche Massenproteste, die sich irgendwann zu einem gewaltigen Marsch vereinigen könnten, ist gestorben … Die Zeichen stehen seitdem auf Krieg.“ Kurz darauf gründeten die ersten Deserteure die Freie Syrische Armee (FSA).

Helberg sieht davon ab, mögliche Szenarien für die Zukunft des Landes zu erörtern. Stattdessen beschreibt sie die Lage, wie sie sich Ende Juni beim Abgabetermin des Manuskripts dargestellt hat, und zieht daraus ihre Schlüsse. Das zeigt sich etwa, wenn sie das Land als einen Kosmos von Parallelwelten darstellt – den vom Regime weitgehend aufgegebenen kurdischen Regionen, den von der FSA befreiten Gebieten und den Bastionen des Regimes. Doch dieses Kaleidoskop zeigt sich selbst innerhalb der Städte, wo einzelne Viertel in der Hand der Opposition sind, die dort quasistaatliche Aufgaben übernimmt, während andere vom Regime gehalten werden.

Zum Beispiel Homs: Hier hat die Armee eine Art Schutzring um alawitische Viertel errichtet, die dadurch zugleich militärisches Aufmarschgebiet der gefürchteten Schabiha-Milizen geworden sind. Die Bewohner der jeweiligen Stadtteile vermeiden es also tunlichst, die lokalen „Grenzen“ zu überqueren. Diese Realität, folgert die Autorin, ist im schlimmsten Fall ein Vorgeschmack auf Syriens Zukunft: den Zerfall des Landes entlang konfessioneller Linien. Und je länger der Konflikt dauert, desto größer wird diese Gefahr.

Am Ende der Einleitung schreibt Helberg, manche ihrer Freunde sagten ihr heute, Syrien sei nicht mehr, wie es war. Die Autorin merkt dazu an: „Ich hoffe trotzdem, dass ich es wiedererkennen werde. Dass sich am Ende vor allem die politischen Verhältnisse verändert haben – und nicht die Menschen.“ Das ist auch für Syrien zu hoffen.

Kristin Helberg: „Brennpunkt Syrien. Einblick in ein verschlossenes Land“. Herder Verlag, Freiburg 2012, 200 Seiten, 9,99 Euro