Der lebende Gewissensbiss

PHILOSOPHIE Vladimir Jankélévitch plädiert für die Ironie als riskante Erkenntnisform

Nach dem Zweiten Weltkrieg befasste er sich nie wieder mit deutschen Denkern

Der französische Philosoph Vladimir Jankélévitch ist hierzulande immer noch zu entdecken. Dass sein Werk erst seit 2003 nach und nach ins Deutsche übersetzt wird, hat sicherlich damit zu tun, dass die Rezeption des Sohns russischer jüdischer Emigranten in Frankreich ebenfalls schleppend anlief. Der 1903 geborene Jankélévitch stand in der Tradition der Lebensphilosophie Henri Bergsons, zu Nachkriegsströmungen wie Existenzialismus oder Strukturalismus wahrte er Abstand, was ihn lange Zeit zum Außenseiter machte.

Dass Jankélévitch einen feinen Blick für das Konkrete hatte, kann man in seinem jetzt erstmals auf Deutsch erschienenen Essay „Die Ironie“ bestens nachvollziehen. Jankélévitch kreist in stets neuen Anläufen um Fragen von Witz und Humor, interessiert sich aber insbesondere für die Ironie als Haltung und Erkenntnisform. Immer wieder kommt er auf Sokrates als zentrale Gestalt der Ironie zurück: Der antike Philosoph wurde mit seiner charakteristischen Dialogführung zum Begründer der „sokratischen Ironie“, einer „fragenden Ironie“, wie Jankélévitch sie nennt, bei der die Gewissheiten des Gesprächspartners durch scheinbar dummes Nachfragen als Vorurteile oder Unwissen demaskiert werden: Sokrates war für die „frivole Polis eine Art lebender Gewissensbiss“. Für Jankélévitch ist Ironie eine Erscheinungsform des Bewusstseins, das sich von der Gegenwart ablöst und so das Denken in Bewegung bringt: „Ironie löst die Zunge.“ Intellektuelle Aktivitäten wie das Erraten von Hintergedanken, das Lesen zwischen den Zeilen oder das Verstehen von Anspielungen seien anders kaum denkbar. Umgekehrt läuft der Ironiker Gefahr, sich von sich selbst zu entfernen. Auch Wagemut sei von der Ironie nicht groß zu erwarten.

Trotz der Risiken, die die Ironie für das Subjekt mit sich bringt, will Jankélévitch sie nicht als billig zu habende Pseudokritik abgewertet wissen. Mit der Ironie ist es ihm durchaus ernst: „Die Ironie lässt die Luft aus der falschen Erhabenheit, den lächerlichen Übertreibungen und dem Alp der leeren Mythologien heraus.“ Seine großzügig mit Verweisen auf die Antike ausgestatteten Überlegungen formuliert Jankélévitch elegant, ohne eine allzu hermetische Terminologie zu bemühen. Stattdessen bevorzugt er paradoxe Figuren wie „unsichtbare Sichtbarkeit“ oder „veräußernde Verinnerlichung“. Hinzu kommen eine Vielzahl von Anspielungen auf die Musikgeschichte – Jankélévitch war zeitlebens vor allem als Musikwissenschaftler bekannt. Hier und da merkt man dem Text die Freude am Klang der Sprache etwas sehr deutlich an, wird dafür aber regelmäßig mit pointierten Einsichten belohnt.

Was dieser Ausgabe fehlt, ist eine kommentierende Einführung. Jankélévitch, der sich zunächst stark für den Deutschen Idealismus und deutsche Musik begeistert hatte, zog aus der Erfahrung des Holocaust nämlich die Konsequenz, dass er sich nach dem Zweiten Weltkrieg in seinen Werken nie wieder mit deutschen Denkern oder Komponisten befasste.

Vor diesem Hintergrund ist es irritierend, dass in „Die Ironie“ Philosophen wie Friedrich Schlegel, Max Scheler und Friedrich Nietzsche ausgiebig erwähnt oder zitiert werden, als Erscheinungsjahr des französischen Originals aber 1964 angegeben ist. Tatsächlich erschien das Buch ursprünglich 1936 und wurde später noch einmal in erweiterter Form verlegt. Hinweise zur Geschichte des Texts und zum Leben seines Verfassers wären daher aufschlussreich gewesen. TIM CASPAR BOEHME

Vladimir Jankélévitch: „Die Ironie“. Aus d. Französischen von J. Brankel. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 190 Seiten, 19,95 Euro