Das Weiterleben nach der Schlacht

BRILLANZ Kriegsschauplätze mitten im Frieden: James Salters großer Roman „Alles, was ist“ wird literarisch angetrieben von einem Drang nach Erfahrung und Leidenschaft

Salter kennt die erzählerischen Konzepte der Moderne; in seiner Intention allerdings ist er eher ein Autor des 19. Jahrhunderts

VON CHRISTOPH SCHRÖDER

Viel zu oft ist im Zusammenhang mit dem Erscheinen eines Buches von einem „Ereignis“ die Rede. Wenn aber der mittlerweile 88-jährige US-Amerikaner James Salter erstmals einen neuen Roman veröffentlicht, dann ist das in der Tat ein Ereignis. Sein Roman „Lichtjahre“, im Original 1975 publiziert, erschien erst 1998 in deutscher Übersetzung. Im Anschluss daran legte der Berlin Verlag quasi im Jahrestakt nach, was den falschen Eindruck erzeugt haben könnte, Salter, der in seiner Heimat als ein Geheimtipp gilt, als ebenso hoch geschätzt wie vom breiten Publikum wenig gelesen, sei ein produktiver Autor. In Wahrheit aber ist „Alles, was ist“ Salters erster Roman seit der Bergsteigergeschichte „In der Wand“, und die erschien vor 33 Jahren.

„Alles, was ist“ hat rein inhaltlich eine strenge Zweiteilung: über die ersten 12 Seiten herrscht, politisch betrachtet, Krieg; über die restlichen 354 Seiten herrscht Frieden. Philip Bowman, Lieutenant zur See, nimmt 1945 an der letzten, entscheidenden Schlacht der US-Marine gegen die japanische Armee teil – „der Geruch von Tod und verbrannten Trümmern lag in der Luft“ – es ist eine intensive, großartige und mitreißende Schilderung, und es ist weit mehr als eine spektakuläre Ouvertüre. Mit Glück und unter kuriosen Umständen überlebt Bowman das Manöver und kehrt, gerade einmal 20 Jahre alt, zurück nach New York, zurück zu seiner Familie. Die Zukunft steht ihm offen, allein – die wichtigste, die existentielle Erfahrung seines Lebens hat Bowman bereits hinter sich. Was soll da noch kommen?

Vor diesem Hintergrund muss man die weitere Biografie des Philip Bowman, wie Salter sie vor uns ausbreitet, lesen und verstehen. Man mag Bowman mit gutem Willen als die Hauptfigur des Romans bezeichnen, weil er der einzige Charakter ist, an den man sich halten kann. Die anderen treten auf, bekommen eine Geschichte, ein Schicksal sogar, und treten wieder ab. Das ist das Bauprinzip des Romans, der chronologisch erzählt ist, aber ganz offensichtlich an drei Dingen kein Interesse hat: an einer mit dieser Chronologie verbundenen Sinnstiftung; an dem Gedanken, Zeitgeschichte explizit in den Figuren widerzuspiegeln, sowie an jeglicher Form von ironischer Brechung. Salter kennt die erzählerischen Konzepte der Moderne; in seiner Intention allerdings ist er eher ein Autor des 19. Jahrhunderts. Das ist kein Vorwurf, sondern ein Kompliment, besonders dann, wenn einer so elegant und treffsicher zugleich über Menschen schreiben kann wie Salter. Und man kann seine deutsche Übersetzerin Beatrice Howeg gar nicht genug dafür loben, diesen zugleich leichten und dringlichen Parlandostil so nahtlos gerettet zu haben.

Bowman also kommt zurück nach New York. Er studiert in Harvard, entscheidet sich anschließend, eine Journalistenlaufbahn einzuschlagen, landet aber, eher aus Versehen, in einem ambitionierten literarischen Verlag, wo er eine Anstellung als Lektor findet. Doch „Alles, was ist“ ist nur nebenbei ein Roman über die Literatur, und schon gar kein Schlüsselroman. Hin und wieder werden Autoren mit Klarnamen genannt, doch die Literatur ist erst in zweiter Linie Passion, in erster Linie ist sie Arbeitsfeld. Der zweite Kriegsschauplatz, den Salter aufmacht, ist der der Geschlechter. Kaum einer Figur begegnet man, die nicht in zweiter oder dritter Ehe lebt, in Scheidung, in Trennung oder mindestens promiskuitiv. Salters Prosa ist angetrieben von einer kühlen Lust, von einem Drang nach Erfahrung und Leidenschaft.

Bowman heiratet eine intellektuell eher unbedarfte Südstaatenschönheit aus reichem Haus, man trennt sich, hat zwischendurch Affären, dann wieder eine neue Ehe, Enttäuschungen, Betrügereien, Tricksereien. Das Private und das Politische sind absolut gleichrangig. Der Schlaganfall von Philips erster Schwiegermutter („dann passierte eine schlimme Sache“) wird mit der gleichen Lakonie und den nahezu gleichen Worten quasi nebenbei erwähnt wie die Ermordung John F. Kennedys („etwas Furchtbares war geschehen“). Zuallererst aber ist und bleibt James Salter ein geradezu unheimlicher Menschenkenner; ein Porträtist, der mit wenigen Strichen Haltungen, soziale Konstellationen, Prägungen aufscheinen lassen kann.

Ein Beispiel: Auf einer Party in London begegnet Bowman dem honorigen schwedischen Verleger Berggren, der unter anderem Proust, Genet und Gide im Programm hat. Über ihn heißt es: „Er war groß und reserviert, mit unregelmäßigen Zähnen und ergrautem blonden Haar. Er war dreimal verheiratet gewesen, seine erste Frau hatte Geld und ein Haus besessen, ein altes Haus aus dem vorigen Jahrhundert mit einem Tennisplatz und gepflasterten Wegen. Sie war konventionell, aber sehr schlau und vielleicht nicht gänzlich ahnungslos, als Berggren es gelang, ihr auf einer Party seine neue Geliebte vorzustellen, um ihre Meinung einzuholen, sozusagen, da er ihrem Urteil traute. Die Geliebte wurde seine zweite Frau – er bedauerte die Scheidung, er hatte seine erste Frau geliebt, doch das Leben hatte sich anders entschieden.“ Das ist brillant. Passagen dieser Art gibt es zuhauf. Was bleibt da außer Bewunderung?

James Salter: „Alles, was ist“. Aus dem Amerikanischen von Beatrice Howeg. Berlin Verlag, Berlin 2013, 368 Seiten, 22,99 Euro