Alles im grünen Bereich

EINKLANG Simon ist vierzig, einsdreiundachtzig groß, hat Schuhgröße dreiundvierzig. Und er ist intersexuell. Daher muss er anderen ständig erklären, wer er ist

AUS BERLIN MARTIN REICHERT

Die Menschen haben ein Bild von Simon. Einige haben ihn im Fernsehen gesehen, weil er einer der wenigen Intersexuellen ist, die ihr Gesicht in der Öffentlichkeit zeigen – aus politischen Gründen. Andere glauben ein Bild von ihm zu haben, weil sie die antike Hermaphroditen-Statue aus dem Louvre kennen: ein Mensch aus Marmor, mit weiblichen Brüsten und Penis zugleich ausgestattet. Und hier, in dieser Zeitung, wird noch ein Bild von Simon gezeigt – Simon vor einem grünen Waldgemälde.

Aber Simon sieht längst nicht mehr so aus, wie auf diesen Fotos, „und das ist gut so“, erklärt er, „weil mich nun viele Menschen nicht mehr auf der Straße erkennen“. Aus gesundheitlichen Gründen hat er sich entschieden, den Körper hormonell zu unterstützen. „Es geht mir gut damit. Ich bin nun ruhiger, fühle mich sicherer, habe mehr Kraft – vorher hatte die Fitness deutlich nachgelassen. Seitdem hat sich das Androgyne vermännlicht. Ich habe mehr Muskeln bekommen, bin athletisch. Ich bin einsdreiundachtzig groß, habe Schuhgröße dreiundvierzig. Ich denke, ich sehe jetzt aus wie ein Schwuler. Ich werde wahrscheinlich so gelesen, wenn ich auf die Straße gehe. Und weil ich ‚asiatische Augen‘ habe, halten mich die Leute wohl für einen Ausländer.“

Simon hat keine Kontrolle darüber, wie die Menschen ihn einordnen. Schon seine Eltern in der nordrhein-westfälischen Provinz konnten ihn „nicht sehen“, also nicht verstehen – vielleicht war das sogar ein Glück, weil sie ihn deshalb nicht von Arzt zu Arzt schickten und er bleiben konnte, was er ist: ein Hermaphrodit. Im Fernsehen wurde seine Erklärungen, seine Anliegen in winzige Sequenzen zerschnipselt. – „Es ist dennoch wichtig, Medienarbeit zu leisten, denn nur so kann man den Mythen entgegenwirken.“

Mythen? All diese Bilder in den Köpfen. Intersexuelle, das sind Freaks. Clowns. Exotische Sexobjekte. Eine Pornofantasie. Und immer fokussieren die Blicke der anderen unterhalb der Gürtellinie, im Intimbereich. „Das kann unangenehm sein, manchmal verletzend“, erklärt Simon, „ viele können nicht begreifen, dass Intersexualität häufig innenliegend ist, organisch.“

Er erklärt. Immer muss Simon erklären – weil er anders ist und die Anderen ihn nicht verstehen können. Er erklärt sogar das Erklären – es ist anstrengend, manchmal belastend. Durch seine Arbeit in der Öffentlichkeit wird er sichtbar, angreifbar. Und er macht weiter. Er leistet politische Bildungsarbeit. Er spricht mit Ärzten, Hebammen, Politikern. Er engagiert sich bei Amnesty International, gerade ist er bei einer Tagung in Luxemburg. „Es geht darum, die Zwangsbehandlungen zu beenden, da wird so viel kaputtgemacht, psychisch, körperlich. Niemand hat das Recht, einfach Organe zu entnehmen. Selbst der Tierschutz schreibt vor, dass Tiere erst ab einem bestimmten Alter kastriert werden dürfen. Bei Menschen geschieht so etwas vor dem dritten Lebensjahr. Was nicht passt, wird einfach passend gemacht.“

Trotz aller Probleme ist Simon mit sich selbst längst im Reinen: „Bei mir ist alles im grünen Bereich. Ich habe mein Leben lang mit Ängsten gelebt, da waren immer so viele Fragezeichen – und die sind jetzt weg. Jeder hat seine eigene Wahrheit, und ich habe gelernt, die Grenzen fallen zu lassen. Das Leben ist eigentlich ein Fließgleichgewicht, aber Menschen haben die Tendenz, die Dinge dualistisch zu sehen. Mann und Frau, schwarz und weiß, gut und böse. Es gibt ein Leben jenseits der Begriffe, aber das musste auch ich erst lernen.“

Früh hatte Simon begriffen, dass er aus dem Schema fiel, in der Pubertät gab es die ersten körperlichen Auffälligkeiten. Er verließ die Provinz, studierte Biologie, forschte. Begriff: „All diese Vorstellungen die wir haben, die Kernfamilie, Heterosexualität, Homosexualität … Das sind alles Konstruktionen, es ist fast schon unheimlich.“

Ob die „Queer Theory“, die Geschlecht für konstruiert hält, die Geschlechtergerenzen auflösen will, ein Segen für ihn ist, eine Erlösung womöglich? „Gewissermaßen, aber ich wäre da eher zurückhaltend. Ich glaube nicht, dass alles nur konstruiert ist – Hardware ist Hardware und Software ist Software. Hormone spielen schon auch eine Rolle. Aber es ist eben so, dass wir Andere immer Theorien entwickeln mussten, um unser Dasein zu rechtfertigen, während die meisten glauben, der Standard zu sein.“

Simon ist nun 40 Jahre alt. Er arbeitet als Architekt in Berlin – und fühlt sich wohl. „Ich will und brauche kein Mitleid. Es geht mir gut. Berlin ist eine pluralistische Stadt. Ich habe auch schon in Paris gelebt und in vielen anderen EU-Staaten, aber nirgends ist es so verrückt und frei wie hier. Im Kiez in Berlin-Schöneberg wissen, glaube ich, auch viele, dass ich inter bin. Aber hier leben so viele Schwule und Lesben, das ist hier absolut kein Thema.“

Und die Liebe? „Wenn ich ausgehe, Menschen kennen lerne, sage ich erst mal nichts. Kommt es zu einer Beziehung, oute ich mich. Meistens bin ich mit Intersexuellen zusammen – in der Praxis ist das so. Aber ich verliebe mich in Personen. Bin ich queer? Bin ich Mensch? Nur weil ich inter bin, bin ich nicht beliebig. Ich bin keine Transsexuelle. Ich werde für einen Schwulen gehalten – oft werde ich auch von Schwulen angeflirtet – bin aber keine Tunte. Rollenverhalten, Gender-Codes, all das spielt für mich einfach keine Rolle. Ich habe mich im Laufe meines Lebens emanzipiert. Ich bin einfach ich.“

Vielleicht ist das so schwer zu verstehen, weil die meisten Menschen genau davon träumen: einfach nur sie selbst zu sein.