Nächstes Jahr: Hypnosetherapie

HAUSBESUCH Sie machte Karriere als Bankerin. London, 95.000 im Jahr. Irgendwann war das zu viel. Bei Annie O in Berlin

VON SASKIA HÖDL
(TEXT) UND MIGUEL LOPES (FOTOS)

Berlin-Neukölln, im Richardkiez, zu Hause bei Annie O (30).

Draußen: Ein Eckhaus. Die Backsteinmauer voller Graffiti. Gelbe Eingangstür, von einem Spot beleuchtet. Auf dem Bürgersteig liegt der Herbst. Mittendrin ein Einkaufswagen und Plastiktüten. Gegenüber die Kneipe Bierbaron. An der Gegensprechanlage: keine Spur von Annie.

Drin: Annie steht barfuß im Flur. Die Wände in Apricot, die Türstöcke etwas dunkler. („Das habe ich so übernommen. Ich bin erst vor einem Monat eingezogen“). Bunte Sneakers sauber aufgereiht. Im Schlafzimmer ein halb ausgepackter Koffer neben dem E-Piano. Ein Top mit Glitzersteinen, federbesetzte Handschuhe, ein schimmernder Body in Pink und Grün. „Den hatte ich gestern an – also vorhin – die Nacht war lang“, sagt sie und rauft sich die blonden Locken. Im Wohnzimmer drei Sofas, zwei Holzpaletten als Couchtisch, frische Blumen. Ein Poster an der grünen Wand: Electro Swing Club, Festsaal Kreuzberg („Schade, dass der Festsaal abgebrannt ist.“) Annie zieht an einer schwarzen E-Zigarette, die sie dann wieder in die Tasche ihres Jumpsuits steckt („Rauchen war immer ein Begleiter in meinem Leben, ich liebe diese Handbewegung“). Im Bücherregal Charles Mingus, Hermann Hesse, Wolfgang Herrndorf und ein Buddha aus Porzellan. Darüber ein altes Röhrenradio („Das gehörte meiner Oma. Leider funktioniert es nicht“).

Was macht sie? Annie ist DJane und pendelt zwischen London und Berlin. London ist nach sieben Jahren eher ihr Zuhause, sie lebt dort mit zehn Leuten in einer umgebauten Fabrikhalle. Nächsten Monat zieht sie aus: „760 Pfund Miete ist mir zu teuer.“ Berlin ist ihre Ferienwohnung. Komplett eingerichtet ist sie noch nicht. „Mein Leben ist ein Zickzacklauf.“ In London hat sie ihre Karriere als Bankerin hingeschmissen und angefangen, Musik zu machen. Die Locken sind ihr Markenzeichen („Bevor ich ausgestiegen bin, habe ich meine Haare immer streng zurück getragen“). Von der Musik kann sie leben, zumindest im Moment. Sie veranstaltet eine Clubnight in London und hat eine kleine Firma, die temporäre Tattoos vertreibt. Sie hat eines am Unterarm: eine um einen Anker gewundene Schlange mit der Aufschrift „Mum“. Annie ist über Electro zu Electroswing gekommen. In London wird sie für Clubs, Kostümpartys und Kabarettnächte gebucht. „Die Musik ist tanzbar, happy, more accessible“.

Was denkt sie? Im Moment ist viel los. Zwei Umzüge, Auftritte in London, letzte Woche Familienbesuch in der kleinen Berliner Wohnung. Ihr Neffe hat mit bunter Kreide NEO auf eine Schiefertafel im Flur gemalt („Das steht für Annie O“). Sie ist selten länger als eine Woche am selben Ort. Für sie ist das Routine, andere beneiden sie um ihr aufregendes Leben. Auf eine Stadt will sie sich nicht festlegen („Die Entscheidung, dass ich keine Entscheidung treffen kann, habe ich schon lange getroffen“). Nächstes Jahr will sie in London nebenbei Hypnosetherapie studieren.

Annie O: Geboren in Dortmund, kürzlich 30 geworden. Die ersten 22 Jahre ihres Lebens sehr geradlinig: mit 18 Abitur, BWL-Studium an einer Privatuni, nach vier Jahren Diplom. Schon ein Jahr vor dem Abschluss ein Jobangebot der Investmentbank Merill Lynch. Mit 22 nach London, arbeitet zwölf Stunden am Tag, Jahresgehalt 95.000 Euro. „In der WG war ich die Erste, die morgens das Haus verließ, und die Letzte, die abends nach Hause kam.“ Ihr war das zu viel, sie kündigt, macht ein unbezahltes Praktikum in einer kleinen PR-Agentur („Meiner Mutter ist fast die Gabel aus der Hand gefallen, als ich von meinen Plänen erzählt habe“). In den letzten Jahren war sie selbstständig, hat in einer Band gespielt, in einem Café und bei Topshop gearbeitet („Für 6 Pfund die Stunde T-Shirts falten“). Vor einem Jahr ist sie für einen Marketingjob nach Berlin gezogen.

Das letzte Date? Letzte Woche, abends in London. „War nicht so geil.“

Einsam? „Im Gegenteil.“ Als DJane lernt sie viele Menschen kennen („Mir ist oft unangenehm, dass ich mir nicht alle merken kann“). Viele oberflächliche Kontakte, aber gute Erfahrungen: „Man kann Leuten eine Nacht lang in die Seele schauen.“

Der Alltag: „Home is where the heart is – das muss nicht eine Stadt sein, aber man muss sich wohlfühlen.“ Eine tägliche Routine hat Annie nicht. Unter der Woche bereitet sie sich auf ihre DJ-Sets vor. („In London spiele ich bei einem Morning Rave, Mittwochmorgen um halb sieben“). Einen festen Schlafrhythmus hat sie trotzdem: „Ich starte gern früh in den Tag, wenn ich nicht genug schlafe, dann dreh ich am Rad.“

Wie finden Sie Merkel? „Politik ist etwas, womit ich mich gar nicht beschäftige.“

Wann sind Sie glücklich? „Wenn ich mal Zeit habe – und dann auch noch die Wahl darüber, was ich mit meiner Zeit anfange.“

Nächstes Mal treffen wir Familie Tetik in München. Interesse? Mailen Sie an hausbesuch@taz.de