Kairos mit Halbwertszeit

SCHLAGLOCH VON MATHIAS GREFFRATH Atomkraft lässt sich schnell ersetzen: Die Pläne dafür liegen in der Schublade

■ lebt als freier Autor und Publizist in Berlin. Zuletzt fragte er an dieser Stelle, wie das gute Leben aussieht, wenn wir nicht mehr auf Wachstum setzen.

Wie lang die Halbwertszeiten von Cäsium und Uran 235 ist, wissen wir seit Harrisburg. Die Halbwertszeit von Erkenntnissen zeigt sich in den neu entflammten Debatten über Gefahren und Risiken: kein Argument, das nicht seit den siebziger Jahren hundertfach gewendet wurde. Aber wie lang ist die Halbwertszeit einer POS? Pardon, einer „political opportunity structure“?

POS, von semantisch innovativen Soziologen erfunden, ist eine säkulare Variante des „Kairos“ – des „günstigen Moments“, in dem Gott oder Geist in die Geschichte einbrechen: „Der Zeitpunkt, nach dem nichts mehr so sein wird wie früher“, wie es die Kanzlerin formulierte. Was wiederum Anlass wäre, über den Halbwertszeit von Politikeräußerungen nachzudenken.

Aber es ist jetzt nicht die Zeit dafür. Denn die Spanne dieser POS beträgt nur drei Monate: Kurz vor der Sommerpause, der Zeit des Vergessens, wird es Entscheidungen geben. Die Auslaufzeiten der neun Rest-AKWs werden irgendwo zwischen sechs und zehn Jahren liegen – es sei denn, die Regierung wagt eine Wende zurück.

Ob die Blitzbekehrung der Kanzlerin („Rot-Grün wollte einen Ausstieg bis 2020. Wenn wir das Ziel schneller erreichen können, umso besser“) der Angst vor Wahlschlappen entsprang oder ob sie die Katastrophe nutzte, um eine mit mulmigen Gefühlen beschlossene Atom-Verlängerung zurückzunehmen – das sind Fragen für Historiker. Solange der Kairos währt, ist eine andere Frage wichtiger. Nicht die nach dem Datum des Ausstiegs, sondern nach der Art des Einstiegs in die postnukleare – und postfossile – Epoche.

Strategie der Betreiber wankt

Um die ging es im Kern schon beim Verlängerungsbeschluss. Strategisches Ziel der Betreiber war, so lange wie möglich Profite aus den abgeschriebenen Altanlagen zu ziehen und so spät wie möglich in neue und profitkompatible Anlagen zu investieren: Off-Shore-Windparks in der Nordsee und CO2-Verklappung unter den Ost-Ländern. Damit wäre die Energiequelle gewechselt, aber nicht die Infrastruktur – und mit ihr die Geschäftsgrundlage für ein weiteres Jahrhundert gesichert.

Diese Strategie kommt nun ins Wackeln. Umso wichtiger wird die Frage, über welche Optionen im Juni geredet wird. Grob gesprochen gibt es zwei: Die eine deutet sich im Plan des Wirtschaftsministers an, so schnell wie möglich 3.600 Kilometer Höchstspannungsleitungen zu verlegen, um den Windstrom von Nord- nach Süddeutschland transportieren zu können. Dafür und für die CO2-Speicher der Kohlekraftwerke müsste das Genehmigungsrecht beschleunigt und zentralisiert werden. Auch wenn der Umweltminister Investitionen in Speichertechnologien, Effizienzsteigerung und Energiesparen ins Paket schnürt: eine solche Strategie bleibt strukturkonservativ.

Die diametral entgegenstehende Option wäre der beschleunige Ausbau der dezentralen Energiequellen und Netze. Durch sie hat sich in den letzten zehn Jahren, auf Basis des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG), der Anteil von Wind, Sonne und Biomasse vervierfacht, von 4 auf 17 Prozent – mehr, als die neun bleibenden AKWs produzieren. Möglich war das, weil 95 Prozent der Investitionen in Erneuerbare von Stadtwerken, Betreibergemeinschaften und Privaten getätigt wurden. Die Süd-Länder haben solche Investitionsschübe blockiert. Würde die Entwicklung etwa von Sachsen-Anhalt (46 Prozent Windanteil) in allen Bundesländern nachgeholt, vor allem in Bayern und Baden-Württemberg (je 0,8 Prozent), könnte der Anteil der Windkraft an der Stromversorgung innerhalb von zehn Jahren auf fast 50 Prozent gesteigert werden.

Eine solche Beschleunigung würde die Atomkraft sehr schnell voll ersetzen, auch eine große Zahl der Kohlekraftwerke. Mit ihr würde eine 100-Prozent-Konversion bis 2050 realistisch, wie sie in Szenarien von McKinsey, Umweltbundesamt, WWF oder durch den jüngst verstorbenen Solarpolitiker Hermann Scheer längst vorgedacht worden ist. Sie setzt auf dezentrale Versorgung, Speichertechnologien, eine andere Art der Investitionsplanung und eine nicht sektoriell, sondern strukturell alle Dimensionen des Energieverbrauchs (Mobilität, Produktion, Wohnen) verbindende Energiepolitik. Ihr Nachteil: In einem derartigen Prozess „schöpferischer Zerstörung“ würden die Konzerne zu Verlierern oder müssten sich radikal umsortieren. Ihr Gewinn: In einer absehbaren Zukunft würden die Kosten für Strom auf die der Ersatzinvestitionen sinken, ebenso wie die Abhängigkeit des Landes von fossilen Rohstoffen und der Bürger von Monopolpreisen.

Nicht die Frage nach dem Ausstiegsdatum, sondern die nach der Art des Einstiegs in die postnukleare Epoche steht jetzt an

Neuer Politikstil gesucht

Der „günstige Zeitpunkt“ ist auf uns gekommen durch einen furchtbaren Anlass. Aber gerade der verpflichtet zu einer Grundsatzdiskussion – nicht über die Fragen von gestern, sondern die Umrisse von morgen. Das freilich erfordert einen Wechsel im Politikstil. Minister Röttgen hat es begriffen: Eine radikale Wende braucht einen breiten Konsens; dazu will er einen „Diskussionsprozess organisieren, mit den Kirchen, den Unternehmern, Gewerkschaften und über die Parteigrenzen hinweg“. Auch den hatten wir schon einmal, in der Bundestags-Enquete von 1981/82. Das Resultat war: Es gibt eine Option ohne AKWs, wenn es eine gesamtstrukturelle Energiepolitik gibt. Das Nachdenken blieb folgenlos.

Wer einen Diskussionsprozess organisiert, kann durch Form und Themensetzung die Ergebnisse präjudizieren. Damit im Juni wirklich alle Optionen – auch die 100-Prozent-Szenarien – zur Diskussion stehen, stünde es souveränen Abgeordneten gut an, parallel zu Röttgens Unternehmungen eine Drei-Monats-Enquete in Gang zu setzen. Nicht nur wegen ihres Kontrollauftrags – sondern weil die Weichenstellungen der Energiepolitik auf Jahrzehnte wirtschaftliche, technische und soziale Auswirkungen haben. Eine solche parlamentarische Selbstbeschleunigung, unterstützt etwa von den schon existierenden über hundert 100-Prozent-Regionen, wäre ein Signal, dass erneuerbare Energien nicht nur einen ökologischen Mehrwert, sondern auch einen an Demokratie mit sich bringen.