Debatte Wahlen in Polen: Primitives Freund-Feind-Schema

Die Wahlstrategie der Nationalkonservativen Polens reaktiviert erfolgreich das unterkomplexe Identitätsmuster von bösen Gewinnern und guten Verlierern

Polens Gesellschaft ist tief gespalten. In Arm und Reich, in Stadt und Land, in Reformgewinner und Reformverlierer. Doch während die soziale Schere seit der Wende im Jahre 1989 immer weiter auseinander geht, nimmt die mentale Spaltung in "wir" und "die da oben" ab.

Seit zwei Jahren bemüht sich die nationalkonservative "Recht und Gerechtigkeit" (PiS), genau diese Spaltung neu zu beleben. Denn "My" (Wir) und "Oni" (Sie) waren immer auch moralisch belegt: "Wir - die Guten" und "Sie - die Bösen". Außenpolitisch waren es meist Deutschland und Russland, die mit "Oni" abqualifiziert wurden - als Teilungsmächte im 18. und 19. Jahrhundert, als Todfeinde und Besatzer im Zweiten Weltkrieg. Innenpolitisch galten die Parteikommunisten als "Oni", da diese sich der "guten Gesellschaft" entgegenstellten, der Freiheitsbewegung Solidarnosc und der katholischen Kirche als Bewahrerin der nationalen Kultur Polens. Als sich Partei und Solidarnosc 1989 an einen Tisch setzten und den friedlichen Übergang vom Realsozialismus zur Demokratie beschlossen, begann ein völlig neues "Wir"-Gefühl zu entstehen. Ein "Wir", das alle Polen umfasste, die Masse der Unpolitischen, die ehemaligen Dissidenten und deren frühere Gefängniswärter und Partei-Drangsalierer.

Tadeusz Mazowiecki, der erste nichtkommunistische Ministerpräsident Polens seit dem Zweiten Weltkrieg, verkündete 1989 den "dicken Strich" unter die Vergangenheit. Er hatte andere Sorgen als die große Abrechnung mit der Vergangenheit. Wenig später wählten die Polen Aleksander Kwasniewski zum Präsidenten, einen Mann des alten Systems. Er wolle "Präsident aller Polen" sein, verkündete der frühere Reformkommunist und hielt sich auch weitgehend daran. Zum Dank wählten die Polen ihn für eine zweite Amtszeit. Trotz aller innenpolitischen Spannungen entwickelte sich so allmählich ein durchaus akzeptables NationalgefühlMit Erfolg, das sich auch gegenüber dem Ausland vertreten ließ: "Wir, die Polen."

Doch während es den Reformgewinnern in Polen immer besser ging, sie Karriere machten und ihren Wohlstand mehrten, schafften es die Reformverlierer immer weniger, von der Arbeitslosenhilfe zu leben, die Miete zu bezahlen und die Kinder zu ernähren. Millionen Polen brach der soziale Boden weg. Besonders schwierig war die Lage in Gegenden, wo es nur Staatsunternehmen oder Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften gegeben hatte. Die unrentablen Staatsbetriebe gingen fast alle pleite, neue Investoren aber zog es in Städte mit bereits vorhandener Infrastruktur und qualifizierten Arbeitskräften. So wurde Ostpolen zum Armenhaus des Landes.

Nur drei politische Parteien kümmerten sich um die Systemverlierer, die nationalkonservative "Recht und Gerechtigkeit", die linkspopulistische Bauernpartei "Selbstverteidigung" und die rechtsradikale "Liga der polnischen Familien". Über die Hälfte der polnischen Wähler stimmte vor zwei Jahren für diese Parteien. Nicht nur, weil sie endlich eine gerechte Teilhabe am wachsenden Wohlstand wollte, sondern auch, weil diese Parteien die alte Ordnung in "My" und "Oni" wieder herstellten. Wir - die Opfer des Systems, die Übers-Ohr-Gehauenen und Zu-kurz-Gekommenen und Sie - die schamlosen Gewinner, die es über Seilschaften, Korruption, Lug und Trug zu Reichtum gebracht hatte.

Zu den "Bösen" im Innern, denen insbesondere die nationalkonservative PiS den erbarmungslosen Kampf ansagte, wurden auch wieder die alten und wohl vertrauten Feinde im Ausland hinzu sortiert: Deutschland und Russland. Diesen angeblich "gefährlichsten Gegnern Polens" müsse Polen "hart" entgegentreten und ihr schlechtes Gewissen aus dem Zweiten Weltkrieg besser ausnutzen, forderten die Kaczynski-Brüder. Mit der "moralischen Revolution" sollte die alte Ordnung von Gut und Böse, My und Oni wiederherstellt werden. Zudem - so lautete vor zwei Jahren das Wahlversprechen der Kaczynski-Brüder - würden diesmal die Guten den Kampf gewinnen. Die Systemverlierer würden endlich auf der Sonnenseite des Lebens stehen und die alten Kommunisten, Ex-Spione und Stasi-Agenten ihrer gerechten Strafe unterzogen. Die Deutschen und Russen aber würden international so viel Ärger durch die Polen bekommen, dass sie den Nachbarn endlich ernst nehmen müssten. Obwohl dieser Politik bislang kein Erfolg beschieden war, weder im In- noch im Ausland, trumpfen die Kaczynskis auf: "Der Kampf ist noch nicht zu Ende!"

Auch wenn die Methoden und Ziele der Kaczynskis und ihrer Partei umstritten sind, so ist ihre Diagnose von der verlorenen Identität doch richtig und allgemein akzeptiert. Polens Geschichtsbild hat sich in den letzten 18 Jahren dramatisch verändert. Und damit auch die Identität der Polen. Das in der Romantik entstandene Bild von Polen als einem "Christus der Nationen", der eines Tages wiederauferstehen und allen unterdrückten Nationen die Freiheit bringen wird, beflügelte noch die Freiheitskämpfer der Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc. 1989 war es dann soweit: Nach fast 200 Jahren der Unfreiheit, unterbrochen von einer kurzen Unabhängigkeitsphase (1918-1939), war Polen wieder frei.

Für viele erfüllte sich damit die historische Mission Polens. Denn nach der Ausrufung der polnischen Demokratie 1989 gewannen fast alle anderen Ostblockstaaten ebenfalls ihre Freiheit und Unabhängigkeit zurück. Nur bemühen die Polen heute nicht mehr den "Christus der Nationen" als Symbol, sondern einen fallenden Dominostein, der eine Kettenreaktion auslöst. Am Ende liegen fast alle Dominosteine wie eine gefallene Mauer auf dem Boden. Dieses Symbol der wiedererlangten Freiheit wird demnächst auch als Denkmal in Berlin errichtet werden und auf der Linie der früheren Mauer daran erinnern, dass auch die Deutschen dem polnischen Freiheitskampf viel verdanken.

In Polen aber hatte die neue Freiheit eine unerwartete Folge. Die zahlreichen Diskussionen über Geschichtsthemen, die zum ersten Mal ohne Zensur geführt werden konnte, entlarvten das bisherige Geschichtsbild als einen Mythos. Zwar hatte dieser Mythos von My-die Guten und Oni-die Bösen geholfen, die lange Zeit der Unterdrückung zu überdauern, doch in der neuen Ära der Freiheit zeigte sich, dass Polen in der Geschichte nicht nur immer "die Guten" waren. Mit dem Mythos brach also auch Polens bisherige nationale Identität in sich zusammen. Viele wollten dies zunächst nichtwahrhaben, andere leugneten es und beschworen immer wieder die Toten des Zweiten Weltkriegs und des Freiheitskampfes der Solidarnosc, dritte aber schreiben Bücher: "Polen auf der Suche nach einer neuen Identität".

Die Kaczynskis wollen keine neue Identität. Statt den Polen das Gefühl zu geben, in den letzten Jahren gemeinsam etwas erreicht zu haben, auf das sie stolz sein können, vertiefen sie wieder die alte Spaltung. "Wir sind gut" - und "Ihr seid böse" ist ihre deprimierend primitive Devise.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.