DIE ERINNERUNGSSTÄTTE FÜR VERTRIEBENE MUSS HISTORISCH-KRITISCH SEIN
: Jenseits des Opferkultes

Die kuriose Bezeichnung „Sichtbares Zeichen“ entstammt dem Koalitionsvertrag zwischen CDU und SPD von 2005. „Sichtbar“, also in Berlin angesiedelt, soll des Schicksals der Menschen gedacht werden, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus ihrer Heimat flüchten mussten oder vertrieben wurden. Damit übernahm die Regierung das Projekt „Zentrum gegen Vertreibungen“ des Bundes der Vertriebenen (BdV), handelte sich allerdings auch die Probleme ein, die mit jeder gesonderten Vertriebenen-Erinnerungsstätte verbunden sind. Der Haupteinwand lautet: das Flucht- und Vertreibungsschicksal wird aus dem Kontext der nazistischen Eroberungs- und Vernichtungspolitik herausgelöst.

Hätte man dem BdV die Durchführung seines Vertreibungsprojekts überlassen, so wäre eine gesellschaftliche Auseinandersetzung über Opferkult und konkurrierende Opferansprüche angesagt gewesen. Es war ja stets unwahr, dass das Vertriebenenschicksal in Deutschland nur ein Kümmerdasein gehabt habe – und daher jetzt endlich den Vertriebenen Gerechtigkeit widerfahren müsse. Nach diesem Streit hätte kein Hahn mehr nach dem „Zentrum“ des BdV gekräht.

Aber nein, Angela Merkel musste das Projekt unbedingt zur Staatssache machen. Und lieferte damit den Kaczyński-Zwillingen Munition frei Haus für ihre Propaganda gegen den deutschen „Geschichtsrevisionismus“. Dankenswerterweise hat die polnische Regierung den Umtrieben ihrer Vorgängerin im polnisch-deutschen Verhältnis ein Ende gesetzt und sich am „Sichtbaren Zeichen“ für desinteressiert erklärt.

Deshalb kann sich jetzt die Auseinandersetzung auf die Frage konzentrieren, wie aus einer misslichen Situation das Beste, nämlich eine unabhängige, historisch-kritische Einordnung und Bearbeitung des Vertreibungsthemas als Bestandteil der deutschen Geschichte ins Werk gesetzt werden kann. Der Ausgang des Unternehmens ist durchaus offen, vor allem wenn man bedenkt, wie schon bisher das Staatsministerium Neumanns massiven Einfluss auf die Gestaltung von Gedenkstätten zu nehmen versucht hat. CHRISTIAN SEMLER