Im Schützengraben mit den USA

Diese Woche berät eine internationale Konferenz in Paris über die Zukunft Afghanistans. Sie muss sich einen neuen Ansatz überlegen. Denn die bisherige Strategie ist gescheitert

Thomas Ruttig, 50, hat bis 2006 für UN und EU in Afghanistan gearbeitet. Dieser Beitrag fasst seine Studie „Afghanistan: Institutionen ohne Demokratie“ zusammen, die bei der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ erscheint (www.swp-berlin.org).

Sieben Jahre nach dem Sturz des Taliban-Regimes steckt der Wiederaufbau in Afghanistan in einer tiefen Krise. Eine militante Aufstandsbewegung hat weite Teile des Landes erfasst und hindert afghanische wie ausländische Zivilisten wie Militärs am Zugang. An die Stelle einer Post-Konflikt-Stabilisierung unter Führung der UN, wie sie auf der Bonner Afghanistan-Konferenz von Ende 2001 vereinbart wurde, ist spätestens seit dem Jahr 2003 die militärische Logik einer Aufstandsbekämpfung unter Führung der USA getreten.

Wer die Aufstandsbewegung vor allem als ein militärisches oder gar nur ein Terrorismus-Problem betrachtet, der übersieht, dass sie nicht nur Ursache, sondern auch Folge der Fehler ist, die im Übergangsprozess begangen wurden. Ein großer Teil der Aufständischen gehört nicht zur islamistischen Al-Qaida-Internationalen, sondern bekämpft die Karsai-Administration wegen ihrer schlechten Regierungsführung, ihrer Korruption und mangelnden Rechtsstaatlichkeit. Bestimmte Stammesgruppen haben sich erhoben, weil sie sich durch Karsai-Verbündete an den Rand gedrängt fühlten.

Versäumnisse und Fehler der internationalen Gemeinschaft haben die Aufstandsbewegung stark gemacht. Nach drei gescheiterten Diktaturen, von pro-kommunistisch bis islamistisch, wurde Afghanistans demokratisches Potenzial nicht genutzt. Die Bündnispolitik des Westens hatte verheerende Folgen: Mit den Mudschaheddin der Nordallianz setzten die intervenierenden US-Truppen auf Alliierte, die aufgrund ihrer Gewaltherrschaft nach 1992 in der Bevölkerung zutiefst diskreditiert waren. Da ihre Milizen nicht wie vorgesehen entwaffnet und aufgelöst wurden, konnten sie die Parlamentswahlen 2005 gewaltsam beeinflussen und die neuen, demokratischen Institutionen übernehmen. Aus dieser Position der Stärke heraus versuchen sie, nach 2001 gewonnene Freiheiten wieder einzuschränken.

Im Gegensatz dazu wurden neue, pro-demokratische Kräfte marginalisiert, die heute als Gegengewicht zu den Islamisten fehlen. Zu früh wurde die neue Regierung in Kabul mit internationaler Legitimität versehen; zu lange hat man ihre Korruption und die Patronage führender Politiker über den Drogenhandel und ihre Verbindungen zu illegalen Milizen unkritisch hingenommen. Der übertriebene Zentralismus im „System Karsai“ trägt dazu bei, dass Ressourcen für den Wiederaufbau versickern. Das alles hat weite Teile der Bevölkerung vom Wiederaufbauprozess entfremdet und treibt den Aufständischen Anhänger zu.

Noch stellen die meisten Afghanen das internationale Engagement nicht grundsätzlich in Frage. Doch die Kritik an der Mission und ihrer Ausgestaltung nimmt zu. Die Mehrheit sieht in der Aufstandsbewegung zwar keine Alternative. Aber quer durch die politischen Lager ist man der Ansicht, dass mit ihr ein Arrangement erzielt werden muss. Diese Haltung birgt Spielräume, um den Aufstand einzudämmen, die Vertrauenskrise zu überwinden und den Wiederaufbau wieder aufs richtige Gleis zu setzen.

Nutzen lassen sich diese allerdings nur, wenn die internationale Gemeinschaft einen klaren Strategiewechsel vornimmt. Dabei dürfen nicht militärische Aspekte im Vordergrund stehen. Der Neuansatz muss sich vielmehr darauf konzentrieren, die Legitimität der staatlichen Institutionen wiederherzustellen: durch bessere Dienstleistungen und reale Möglichkeiten breiter politischer Partizipation für die Bevölkerung. Es geht also um eine Stabilisierung durch eine weitere Demokratisierung. Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2009 und 2010 bilden dabei eine Zäsur.

Mit dem „Afghanistan Compact“, der im Januar 2006 zwischen den Geberländern und der afghanischen Regierung geschlossen wurde, liegt die völkerrechtliche Grundlage für eine solche neue Strategie vor. In seiner aktuellen Form ist das Abkommen jedoch nicht ausreichend: Die Prioritäten müssen neu geordnet, die einzelnen Maßnahmen besser abgestimmt und zusätzliche Ressourcen bereitgestellt werden. Wenn den neuen afghanischen Institutionen im Innern mehr Legitimität zuwächst, wird sich die Bevölkerung auch wieder mehr mit dem Stabilisierungs- und Wiederaufbauprozess identifizieren.

Um dieses Ziel zu erreichen, ist Folgendes notwendig: Zunächst müssen die politischen Strukturen Afghanistans demilitarisiert werden. Dazu bedarf es einer „nachholenden“ Entwaffnung illegaler bewaffneter Kräfte, die alternative Machtzentren bilden und zum Teil Hilfsdienste für die westlichen Truppen leisten; dies würde das politische System für Reformkräfte öffnen. Diese könnten im Vorfeld der nächsten Wahlen zusätzlichen Spielraum gewinnen, was den Willensbildungsprozess auf eine repräsentativere Basis stellen würde. Exekutive und Legislative, die aus diesen Wahlen hervorgehen, könnten das staatliche Gewaltmonopol dann mit größerer Legitimität durchsetzen.

Die Regierung muss in die Lage versetzt werden, der Bevölkerung in stärkerem Maße als bisher landesweit Basisdienstleistungen bereitstellen zu können, indem solche Kapazitäten gezielt aufgebaut werden. Auf diese Weise wird die Regierung in Kabul überhaupt erst regierungsfähig. Gleichzeitig muss die Korruption wirksam bekämpft und damit ein klarer Bruch mit der gegenwärtigen Praxis markiert werden. Die Mandate der internationalen Militär- und Polizeikräfte müssen geändert werden, um die reformierten afghanischen Behörden und Sicherheitskräfte notfalls auch robust im Kampf gegen Korruption und Drogenhandel zu unterstützen. Von afghanischer Seite müssen Entwicklungsprioritäten gesetzt werden, wobei die örtliche Bevölkerung in die Entscheidungen einbezogen werden sollte. Und auf internationaler Seite? Ist es unabdingbar, dass die Vergabe von Entwicklungsprojekten transparenter gehandhabt und ihre Umsetzung stärker überwacht wird.

Fehler des Westens haben die Aufstands- bewegung gegen die Regierung in Kabul erst stark gemacht Der Zentralismus im „System Karsai“ trägt dazu bei, dass die Gelder für den Wiederaufbau versickern

Die afghanischen Staatsstrukturen sollten dezentralisiert werden, damit die Behörden besser auf die Lebenssituation der lokalen Bevölkerung reagieren können. Dazu müssten etwa Zuständigkeiten bei der Planung und Zuweisung von Ressourcen von Kabul auf die Provinzen verlagert werden; gleichzeitig sollten dort die demokratisch-partizipativen Elemente gestärkt werden. Durch gewählte Gremien oder – wo diese noch nicht existieren – stammes- und zivilgesellschaftliche Selbstorganisation der Bevölkerung ließe sich die Transparenz erhöhen.

Zuletzt sollte die bisherige Aufstandsbekämpfung durch eine umfassende, einheitliche und primär politische Strategie abgelöst werden. Entscheidend ist, dass die afghanischen und internationalen Akteure ihr Vorgehen effektiver und gleichberechtigt miteinander koordinieren. Ziel sollte es sein, die verhandlungsbereiten Teile der Aufstandsbewegung dazu zu bewegen, dem gewaltsamen Kampf abzuschwören und sich am politischen Prozess zu beteiligen.

THOMAS RUTTIG