Debatte europäische Integration: Schluss mit der Erpressung

Der Vertrag von Lissabon ist tot. Das EU-Establishment muss das jetzt begreifen. Die europäische Integration kann schrittweise unter Beteiligung der Bevölkerung gelingen

Im Streit um den Grundlagenvertrag von Lissabon hat sich die politische Elite Europas in eine Sackgasse manövriert. Nun schreckt sie auch vor dem Mittel der Erpressung nicht zurück, um das Projekt auf Biegen und Brechen durchzudrücken. Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy etwa drohte auf dem EU-Gipfel in der vergangenen Woche, kein weiteres Land könne der EU beitreten, bis die Iren ihr Nein zum Vertrag revidieren. Das Inselvolk als Saboteur der europäischen Einigung zu brandmarken passt gut in das Schwarz-Weiß-Bild, das die Vertragsverfechter gerne zeichnen: auf der einen Seite die guten Europäer, die mit Leidenschaft für den Vertrag einstehen, auf der anderen Seite die Querulanten, die sowohl Vertrag als auch europäische Einigung verhindern wollen. Es ist aber falsch, den Streit auf vermeintliche "Europa-Befürworter" und "Europa-Gegner" zu reduzieren.

Gerade Verfechter des europäischen Gedankens wehren sich gegen die Lissabonner Mogelpackung. Angeblich soll Europa durch den Vertrag ja demokratischer, transparenter und effizienter werden. Doch das ist nur die halbe Wahrheit, denn der Vertrag ist ein kaum entwirrbares Knäuel aus institutionellen Reformen, gesellschaftlichen Bekenntnissen und höchst kontroversen politischen Festlegungen. Zudem führt er die 2005 in französischen und niederländischen Referenden gescheiterte EU-Verfassung durch die Hintertür ein, denn ihr Text wurde zu 95 Prozent in den Lissabon-Vertrag eingearbeitet. Diesmal nur mit dem Unterschied, dass die wahre politische Tragweite in 270 unlesbaren Seiten Juristenkauderwelsch voll Anhängen und Fußnoten versteckt wurde. Selbst Fachleute haben mit ihrer Interpretation Schwierigkeiten. Geheimnistuerei kommt hinzu, denn die Endfassung des Lissabon-Vertrages wurde erst am 16. April 2008 veröffentlicht. Da überrascht es nicht, dass europäische Normalbürger kaum noch verstehen, was da eigentlich beschlossen wird. Sollen sie auch nicht: Denn hinter der Taktik steckt System, um sowohl eine öffentliche Debatte wie auch die Forderungen nach Volksabstimmungen zu vermeiden. Beides sind aber keine guten Ansätze, um für Vertrauen in Europa zu werben.

Die Furcht der Schöpfer, das überkomplizierte Vertragswerk durch einen wirklich transparenten Prozess zu führen, war verständlicherweise groß. Deshalb haben die unterstützenden Regierungen von vorneherein ein echtes Mitspracherecht der Bevölkerung ausgeschlossen: Nationalen Referenden wurde in allen Ländern bis auf Irland mit einem juristischen Trick die Grundlage entzogen, indem der Lissabon-Vertrag schlicht als Ergänzung bestehender EU-Verträge definiert wurde. In Frankreich wurde sogar die Verfassung geändert, um das vorgeschriebene Referendum zu verhindern. Stattdessen sollen nun Parlamente den Vertrag ratifizieren.

Freunden eines demokratischen, sozialen und friedlichen Europas gibt der Vertrag von Lissabon genug Gründe, misstrauisch zu sein. Da wird etwa eine Aufrüstungsverpflichtung gesetzlich verankert. "Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern", heißt es in dem Dokument. Eine demokratisch nicht legitimierte "Verteidigungsagentur" soll in Zukunft den Mitgliedsstaaten verbindliche Vorgaben zur Entwicklung ihrer Rüstungspolitik machen. Von dem im deutschen Grundgesetz geregelten Verbot von Angriffskriegen ist in der Pseudo-Verfassung keine Rede. Stattdessen sollen sich EU-Militäreinsätze im Ausland nicht einmal mehr an der "Charta der Vereinten Nationen" orientieren, sondern nur noch an ihren "Grundsätzen" - ein wichtiger juristischer Unterschied.

Auf ökonomischem Gebiet werden im Lissabon-Vertrag zahlreiche neoliberale Glaubensbekenntnisse in Verfassungsrang erhoben. So soll die soziale Marktwirtschaft per Gesetz "in hohem Maße wettbewerbsfähig" sein und auf dem EU-Binnenmarkt müsse ein Wettbewerb herrschen, der vor "Verfälschungen geschützt ist". Wohin dieser Geist führt, zeigt die jüngst vereinbarte Arbeitszeit-Richtlinie der EU, die Beschäftigungszeiten bis zu 65 Stunden pro Woche erlaubt.

Neoliberales Mantra setzt sich auch im Paragrafen über "Haushaltsdisziplin" fort, die es "verstärkt zu überwachen gelte". Selbst der ökonomisch unsinnig gewählten Grenze der Neuverschuldung des "Stabilitäts- und Wachstumspaktes" wird hier Gesetzesrang eingeräumt. Gleiches gilt für die einseitige Geldpolitik der Europäischen Zentralbank, die sich als Stabilitätshüter geriert, aber primär den Interessen der Kapitalbesitzer verpflichtet ist. Anders als etwa bei der US-Notenbank schreibt ihr der Lissabon-Vertrag das Ziel einer angemessenen Beschäftigung nicht vor, sondern nur die Sicherung der Preisstabilität.

Die Beispiele illustrieren, dass es im Lissabon-Vertrag um weit mehr geht als nur um ein bisschen mehr Mitbestimmung und Transparenz. Sicher, es ist gut, wenn im Lissabon-Vertrag dem Europäischen Parlament mehr Mitsprache eingeräumt wird und in ein paar Jahren die Mehrheitsentscheidung im Ministerrat eingeführt wird. Doch das sind vergiftete Köder, mit dem die Bevölkerung der EU dazu verlockt werden soll, zahlreiche Entscheidungen zu schlucken, die nicht in ihrem Interesse sind.

Wie geht es also weiter? Klar ist, dass sich das EU-Establishment mit dem Grundlagenvertrag heillos übernommen hat. Um ihn nun durchzuboxen, nimmt es keine Rücksicht mehr auf Kollateralschäden. Selbst aus dem vorangegangenen Debakel um die EU-Verfassung hat Europas politische Elite offenbar nichts gelernt. Das zeigt etwa die Diskussion über eine Neugründung der EU oder die Wiederholung des irischen Referendums.

Europas Führer warnen, die Gemeinschaft drohe ohne den Lissabon-Vertrag zu zerbrechen. Dabei haben sie offenbar noch nicht bemerkt, dass das Verhältnis zwischen ihnen und den Menschen in Europa längst zerbrochen ist. Die Lösung kann deshalb nur lauten, den Prozess der europäischen Vereinigung in kleinen Schritten zu gestalten. Ein Opus magnum wird es nicht geben. Verlorenes Vertrauen lässt sich nur durch echte Transparenz und demokratische Teilhabe zurückgewinnen.

Ein erster Schritt wäre, die vermengten Inhalte des Lissabon-Vertrages pragmatisch zu entkoppeln, indem die strukturellen Reformen der EU von politischen Glaubensbekenntnissen getrennt werden. Die Grundlagen der EU müssen so einfach, transparent und einleuchtend sein wie etwa das deutsche Grundgesetz. Niemand braucht Paragrafenmonster, wie etwa die ungeschriebene Verfassung der ältesten Demokratie Europas - Großbritanniens - zeigt. Bei verbindlichen Vereinbarungen von großer politischer Tragweite ist es zudem notwendig, die Bevölkerung direkt durch Referenden zu befragen. Dieser Prozess wird zäh und zeitraubend sein, denn Demokratie ist ein mühsames Geschäft. Er ist aber nötig, um die Bevölkerung wieder von der Idee der europäischen Integration zu überzeugen und Europa aus der Krise zu führen.

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