Kommentar Demokratieverdruss: Demokratieverachtung wird salonfähig

Demokratie hat die Mehrheit der Deutschen nie als erkämpftes Gut kennengelernt. Was man aber nicht errungen hat, glaubt man offenbar, wieder aufgeben zu können.

Schockiert es Sie noch, wenn Sie hören, dass immer mehr Menschen in Deutschland das Vertrauen in die Demokratie verlieren? Neuester Beleg dafür ist eine neue Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung. Laut den Befragungsergebnissen bezweifelt jeder dritte Bundesbürger, dass die Demokratie Probleme löse, in Ostdeutschland ist es sogar eine Mehrheit von 53 Prozent.

Vermutlich schockiert diese Botschaft nur noch wenige. Zu oft sind laute Warnungen ergangen über "Politikverdrossenheit", "Reformfrust" und "Demokratieferne", und stets ging es ja immer irgendwie weiter. Neu und besonders beängstigend aber ist, dass die Abscheu vor zähem parlamentarischem Handeln in alle sozialen Gruppen eindringt. Demokratieverachtung wird salonfähig.

Das hat viel mit der wirtschaftlichen Entwicklung zu tun, denn nur jeder dritte Befragte blickt derzeit optimistisch in die Zukunft: Die Mehrheit fürchtet den gesellschaftlichen oder finanziellen Absturz. Zum einen liegt das am Zerfall der sogenannten nivellierten Mittelschicht der alten Bundesrepublik, entstanden und gepflegt in Jahrzehnten wachsenden Wohlstands durch ein immer feiner gesponnenes Netz sozialer Sicherungen. So lernten die Westdeutschen, politisch erwünscht, Demokratie mit materieller Sicherheit gleichzusetzen. Diese prägende Erfahrung fehlt den meisten Bewohnern der - mittlerweile nicht mehr ganz so neuen - Bundesländer. Oft genug ist gesagt worden, aber es bleibt zutreffend: Demokratie hat die Mehrheit der Deutschen nie als erkämpftes Gut kennengelernt. Was man aber nicht errungen hat, glaubt man offenbar, wieder aufgeben zu können.

Dass immer mehr in der Mittelschicht glauben, "die Demokratie" trage Schuld an ihrer tatsächlichen oder eingebildeten Bedrängnis, ist indes besonders fatal. Es zeigt: Selbst jene, die es besser wissen könnten, haben nicht verstanden, dass Demokratie und Wohlstand nicht notwendig zusammengehören. Doch unsere Gesellschaft braucht zumindest das Wohlwollen der breiten Mittelschichten, um fortbestehen zu können. Doch gerade weil diese Zustimmung schleichend erodiert, wird auch jetzt ein aufrüttelnder Aufschrei ausbleiben. Das sollte schockieren. MATTHIAS LOHRE

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Schriftsteller, Buchautor & Journalist. Von 2005 bis 2014 war er Politik-Redakteur und Kolumnist der taz. Sein autobiographisches Sachbuch "Das Erbe der Kriegsenkel" wurde zum Bestseller. Auch der Nachfolger "Das Opfer ist der neue Held" behandelt die Folgen unverstandener Traumata. Lohres Romandebüt "Der kühnste Plan seit Menschengedenken" wird von der Kritik gefeiert.

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