Debatte NRW-Wahl: Die Machtfrage stellen

Die Wähler wie die Nichtwähler haben den Politikern gezeigt, dass sie sich nur legitimieren können, wenn sie die Finanzbranche regulieren.

Angela Merkel vor wenigen Tagen: "Die Politik muss das Primat über die Märkte wiedererlangen." Die Kanzlerin einer der mächtigsten Wirtschaftsnationen gesteht öffentlich ein, dass die Politik sich hat die Macht aus der Hand nehmen lassen. Eine Räuberbande von Spekulanten treibt demokratisch legitimierte Regierungen wie eine Viehherde vor sich her und die Vertreter des Volkes müssen auf offener Bühne um ihre Selbstbehauptung gegenüber einer gemeingefährlichen Finanzbranche kämpfen. Angesicht dessen ist der Glaube, es sei von Bedeutung, wer in Nordrhein-Westfalen regiert, eine Anstrengung.

Wie kann diese Finanzbranche so reguliert und geschrumpft werden, dass sie Bürgern und Unternehmen dient? Wer zahlt die Zeche der Krisen? Wie und wie schnell kann die deutsche Wirtschaft zu einer ökologisch geprägten Wissensindustrie umgebaut werden? Und: Wird die jetzige Euro-Krise genutzt, um zu einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik der EU zu kommen?

Keine dieser Fragen ist abstrakt und fern, jede Antwort beeinflusst Politik und Alltag der Menschen gravierend und bis ins Detail: die Finanzlage der Kommunen, die Stabilität von Unternehmen, die Qualität des Bildungssystems. Und eine überzeugende Antwort auf die erste Frage ist konstitutiv für alle anderen: Solange die Finanzbranche, die so selbstverständlich Krisen produziert wie sich jeden Herbst Schnupfen ausbreitet, nicht gebändigt ist, ist alles andere auf Sand gebaut.

Was ist vor dem Hintergrund dieser Herausforderungen aus diesem Wahlergebnis herauszulesen?

Es ist ein politischer Segen, dass die Partei Die Linke auch im bevölkerungsreichsten Bundesland in den Landtag eingezogen ist; numerisch bescheiden und doch souverän. Ein Erstarken der SPD muss also nicht auf ihre Kosten gehen. Vielmehr zeigt das Ergebnis: Die drei Parteien, die potenziell Träger einer Politik links des Mainstreams sind, können zeitgleich gewinnen. Und es zeigt auch: Mit dem Einzug der Linken werden Sozialdemokraten und Grüne nicht aus der Verlegenheit entlassen, sich politisch klar zu positionieren. Beides ist möglich: eine rot-rot-grüne Landesregierung und eine rot-grüne Regierung, die sich tolerieren lässt. Wenn die SPD nicht eines von beiden wagt, dann ist sie ihren relativen Wahlerfolg nicht wert.

Es gibt also einerseits eine handlungsfähige Option auf eine halbwegs linke Politik. Und andererseits ist die konservativ-marktradikale Variante in Düsseldorf abgewählt und die im Bund kann - via Bundesrat - blockiert werden. Das heißt, dieses numerisch so zwiespältige und alles andere als klare Wahlergebnis birgt die Option in sich, das politische Ergebnis der Bundestagswahl so gut wie umzudrehen.

Die FDP kann politisch faktisch ausgeschaltet werden. Sie sitzt in Berlin zwar weiterhin am Kabinettstisch, als ein gewisser Stör- und Lärmfaktor, aber niemand muss länger auf sie hören. Damit wäre das Werk von Angela Merkel vollendet: Sie verspürt offenkundig auch in einer Regierung mit der FDP keine Lust, zu ihrem einst marktradikalen Kurs zurückzukehren. Und so ließ sie ihren Wunschpartner FDP von ihren besten (Schäuble wg. Steuersenkungen) und nervtötendsten (Seehofer und Söder wg. Kopfpauschale) Kräften zermürben. Es war wahrlich ästhetisch kein Genuss, aber die Kanzlerin erzielt so mit einem Minimum an eigenem Aufwand ein Maximum an liberaler Schrumpfung. Angela Merkel hat sich in diesem neuen Fünfparteiensystem die Mitte gemopst. Und diese Position will sie, fleischgewordene Mitte, sich auch von der FDP nicht gefährden lassen. Insofern diente der nun so sehr beklagte holprige Start der Bundesregierung einem guten Zweck.

Der Niedergang der FDP ist nicht hoch genug einzuschätzen: Sie erzielte bei der Bundestagswahl 14,6 Prozent. Es schien, sie erstürme den politischen Himmel und werde bald Volkspartei. Und es schien, der Erfolg der FDP sei ein Erfolg der politischen Speerspitze des Marktradikalismus und Egoismus. Und nun?

Im Nachhinein erscheint ihr Wahlerfolg als politischer Irrtum, den das Wahlvolk jetzt korrigierte. Und die Partei präsentiert sich, als habe sie sich in der langen Oppositionszeit mit dem Mittel der Selbstsuggestion mumifiziert, mit letzter Kraft an die Macht geschleppt und verwese nun, seit sie an der frischen Luft der Öffentlichkeit zeigen muss, ob sie regieren kann.

Aber das hat die Landtagswahl auch gezeigt: Die Politik hat keine Machtzentren mehr. Die kleinen Parteien werden größer, die bisher schwachen etwas stärker, die bisher noch starken schwächer. Die Parteien vermögen nicht einmal gemeinsam, ihrem Wahlvolk überzeugend beizubringen, dass die bedrohlichen Staatsschulden als Folgen des Krisenmanagements weitgehend von der Finanzbranche zu verantworten sind. Und alle Parteien zusammen sind weniger denn je legitimiert: Das Ergebnis dieser Wahl war bis zuletzt offen und deshalb spannend.

Es gibt eine Krise. Es kommt auf die Politik an, sie ist also wichtig. Wenn in einer solchen Lage weniger als 60 Prozent der Bürger wählen, dann ist dies mehr als eine geringe Wahlbeteiligung: Es ist ein Akt der Delegitimierung. Denn das Verhalten der gut 40 Prozent - so vielfältig die Motive sein mögen - kann mehr denn je rational begründet werden: Warum soll ich Ohnmächtige wählen?

Die Finanzbranche diktiert. Sie ist - von den Demokratien aus gesehen - außer Kontrolle. Vor kurzem führte sie die Weltwirtschaft an den Abgrund, heute die EU. Und morgen? Die desavouierte demokratische Politik muss erst einmal Autorität und Gestaltungskraft zurückgewinnen, auch national. Sie muss die Machtfrage stellen. Ebenso einfache wie weitreichende Maßnahmen stehen auf der Tagesordnung, um dieser Diktatur endlich ein Ende zu bereiten. Es ist die Finanzwelt selbst, welche die Aufgabe, ihr das Handwerk zu legen, zur vornehmsten Pflicht für Bürger und Politik macht. Eine einfache Landtagswahl hat nennenswerte neue Optionen geschaffen, mit denen ein neuer Anlauf in diesem Sinne genommen werden kann.

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