Hat die Jugend noch eine Jugend?
JA

GENERATIONEN Jugendliche heute sind wahlweise angepasste Karrieristen oder rebellische Politnerds. Am Dienstag bringt die aktuelle Shell-Jugendstudie Gewissheit

Katharina Weiß, 16, ist Schülerin und schrieb das Buch „Generation Geil“

Die allermeisten Jugendlichen würden sagen, dass sie eine Jugend haben. Bei den Recherchen für mein Buch stellten einige meiner Gesprächspartner sogar eine Ausdehnung der eigenen Jugend fest: Es gibt kaum negative Außeneinflüsse, wie Krieg oder Armut, die uns zu einem schnellen Erwachsenwerden zwingen. Statistisch gesehen hat ein Teenager im Jahr 2010 so viel Geld wie nie zuvor, und das Internet schenkt uns neue Entfaltungsmöglichkeiten. Auf der anderen Seite sehen viele Jugendliche diese Möglichkeiten als bedrückend an, sie haben Angst, unter all den Optionen die falsche zu wählen und es für den Rest ihres Lebens zu bedauern. Dass viele von uns nicht auf die Straße gehen, liegt nicht daran, dass wir unpolitisch oder denkfaul sind! Wir haben vielmehr eingesehen, dass die großen Ideen vergangener Jugendszenen scheiterten. Viele meinen, dass Demokratie immer auch Kompromiss ist. Aber es macht noch viel mehr eine „Jugend“ aus: die unzähligen Male, wenn man enthusiastisch auf Erfahrungen zugeht. Sie ist dieses Gefühl: Es ist kein Traum. Wir sind echt. Wir sind lebendig. Und wir sind unsterblich.

Elisabeth Pott, 61, leitet die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung“

Ältere Generationen hätten sich sicher eine Jugend in der heutigen Zeit gewünscht. Jugendliche werden nicht mehr in einem einmaligen Gespräch verschämt über Sexualität aufgeklärt. Stattdessen sprechen viele Eltern heute vertrauensvoll und offen mit ihren Kindern und sind heute wichtige Ansprechpartner. Diese Offenheit unterstützt Jugendliche in ihrer Entwicklung und gibt ihnen Sicherheit. Sie sind informierter, behutsamer und verantwortungsvoller, als viele meinen. Sie warten ab, bis sie in einer festen Partnerschaft das „erste Mal“ erleben können, und verhüten dabei besser und sicherer als je zuvor. Sie sind aufgeklärt, wollen Spaß an ihrer Sexualität haben und sie als etwas Schönes erleben. Dass sie auf die vielen Fragen rund um die Pubertät und das erste Mal heute ausführliche Antworten erhalten, ist dabei sehr hilfreich.

Oliver Skopec, 25, ist Unternehmer, Student und Mitbegründer von SchülerVZ

Jugend lässt sich einem nicht nehmen! Ob der Beschleunigung in Bildungsstress, Supersexualität und global verwehender Jugendkulturen ist es doch eher die Art und Weise der erlebten Jugend, die sich ändert und nicht ihre Dauer oder Intensität. Jugendlich zu sein ist immer anders als zuvor. Heute heißt es Balancen zu finden zwischen permanenter Spannung und Nach-der-Schule-erst-mal-Chillen. Zwischen Konkurrenzdenken und der Reflexion ganz eigener Stärken. Es scheint, der Jugendliche heute wächst durch innere Konflikte zum egoistischen Pragmatiker heran. Jugend lässt sich einem nicht nehmen. Nach wie vor besteht aber die Kunst darin, den Rest der Welt auch zur Jugend zu bekehren. Jugend setzt Regeln außer Kraft und bietet Innovationspotenzial. Jugend muss mehr gestalten, weil sie es kann. Sie muss gehört und übersetzt werden. Wir brauchen die Jugend, um uns an die Hand zu nehmen und immer wieder aufs Neue jugendlich zu werden. Jugend lässt sich einem nicht nehmen – nur hat jede ihre eigene.

Jannes Tilicke, 19, ist Schüler und hat das Thema auf taz.de kommentiert

Ich mache dieses Jahr meinen Abschluss. Von meinen Mitschülern sind viele politisch interessiert. Es fehlt aber an der Motivation, auf die Straße zu gehen. Die 68er hatten den Muff von tausend Jahren und die Jugendlichen der 80er Tschernobyl. Zwar haben wir unsere Themen, doch wenn sie zur Sprache kommen, dann erschrecken die Medien vor den demonstrierenden Jugendlichen. Oder wie war das in Heiligendamm oder mit der Piratenpartei?

NEIN

Fred Grimm, 47, ist Journalist und Autor von „Wir wollen eine andere Welt“

Es gab bessere Zeiten, jung zu sein. Die Jugend der „bildungsnahen“ Schichten ächzt unter der Diktatur des Lebenslaufs, sollte möglichst mit 21 schon fünf Sprachen sprechen, auf sämtlichen Kontinenten Praktika absolviert sowie Nachwuchspreise fürs Geigen- oder Klavierspiel eingeheimst haben. Die „Bildungsfernen“ wissen seit ihrem neunten Lebensjahr, dass niemand sie braucht. Und dann sind da noch die Erwachsenen, die nie aufgehört haben, jung zu sein: Spätpubertierende Mittvierziger in viel zu engen Jeans oder Enddreißigerinnen, die sich fröhlich „Mädchen“ nennen. Zwischen Jungsein und Altersdemenz scheinen heutzutage nur noch ein paar Jahre zu liegen. Andererseits: So ganz leicht hatte es die Jugend nie. Für mein Buch „Wir wollen eine andere Welt“ habe ich in über 1.000 Tagebüchern, Briefen und Aufsätzen nach dem jungen Lebensgefühl seit 1900 gesucht. Eine meiner Lieblingsstellen stammt aus dem Jahr 1949. Damals schrieb die 14-jährige Marianne in ihr Tagebuch: „Ich habe eine unbeschreibliche Wut auf meine Mutter, dieses Aas, Mistvieh, Kamel. Jetzt kann ich wenigstens meine Kosenamen aufschreiben, die ich diesem Stier gebe. Im SWF ein wunderbares Sinfoniekonzert: Mozart. Was geschieht? Sie schaltet es aus.“

Philipp Bodewing, 16, ist Realschüler und Schülervertreter in Rheinland-Pfalz

Immer früher soll unser Bildung beginnen. In immer kürzerer Zeit sollen wir in Bildungseinrichtungen immer mehr lernen. Immer mehr Zeit sollen wir dafür jeden Tag opfern. Uns wird hierdurch immer mehr unsere eigene Jugend genommen. Wie sollen sich Kinder individuell ausleben, wenn sie immer jünger in den Kindergarten gehen sollen und es keine Seltenheit in der Woche ist, wenn ich mit 15 Jahren bis um 16 Uhr in der Schule sitze? Wer das Glück hat, auf eine Ganztagsschule gehen zu können, hat dann wenigstens seine Hausaufgaben erledigt. Mir als Schüler wird allerdings auch zu jedem Zeitpunkt des Tages gesagt, was ich gerade zu tun habe: Jetzt lernst du etwas in Deutsch, dann lernst du rechnen, anschließend isst du das Essen, was es eben heute in der Mensa gibt, und danach hast du Lust darauf zu haben, Fußball zu spielen. Ich empfinde es oft so, dass zu viel von Erwachsenen vorgegeben wird. Wir haben keine Jugend, wenn es für uns nicht die Möglichkeit gibt, uns mehr individuell auszuleben.

Martin Dahm, 22, ist Student und hat seinen Beitrag zum Streit der Woche auf taz.de gestellt

Es gibt tatsächlich wenige Jugendliche, die ihren eigenen Kopf haben. Doch eines muss deutlich gemacht werden: Das Bildungsideal des selbstverantwortlichen Menschen, der aktiv an der Gesellschaft partizipiert oder zu ihr in Opposition steht, findet keine gesellschaftliche, geschweige den wirtschaftliche oder politische Unterstützung mehr. Wo denken lernen und Erfahrungen machen, wenn außerfamiliäre und nichtstaatliche Bildungs- und Jugendeinrichtungen finanziell kleingehalten werden? Wir sind nicht faul oder karrieregeil. Wir werden zur Alternativlosigkeit erzogen.

Hannah Eberle, 19, ist Studentin und seit zwei Jahren im Bildungsstreik aktiv

Die Studierenden gehen heute mit einem ganz anderen Gefühl zur Uni. Sie stehen unter hohem Druck und wissen, dass sie in sechs Semestern fertig sein müssen. Vor zehn Jahren konnte man noch Vorlesungen aus anderen Fächern besuchen oder sich in ein Thema vertiefen. Heute klagen viel Studierende, dass sie keine Zeit mehr für diese Freiheiten haben. Stattdessen besuchen sie ihre Vorlesungen und gehen dann wieder nach Hause, um zu lernen. Auf der Uni fehlt dadurch einfach das Leben. Die größte Schuld trägt die Tatsache, dass es zu wenig Masterplätze gibt. Das führt zu Konkurrenzkämpfen.