Bringt der arabische Frühling Demokratie?
JA

REVOLUTION Ägypter und Tunesier sind ihre alten Herrscher los. Sie hoffen genau wie Menschen in anderen arabischen Ländern auf Freiheit – und bekommen vielleicht neue Unterdrückung

Die sonntaz-Frage wird vorab online gestellt. Immer Dienstagnachmittag. Wir wählen interessante Antworten von Leserinnen und Lesern aus und drucken sie in der nächsten sonntaz.

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Hito Steyerl, 44, setzt sich filmisch mit postkolonialer Kritik auseinander

Im Zeitraum von nur 20 Tagen ist das westliche Stereotyp über „Araber“ in sich zusammengebrochen. Lang genug haben selbsternannte ExpertInnen Zerrbilder gewaltbereiter Muslime verbreitet. Die DemonstrantInnen haben eindrucksvoll bewiesen, dass der Mut zum Aufstand gegen autoritäre Oligarchien und postdemokratische Verhältnisse, gegen Korruption und Propaganda keineswegs ein westliches Monopol darstellt. Im Gegenteil: In den letzten Tagen wurde deutlich, dass der sogenannte Demokratieexport des Westens aus der Unterstützung diktatorischer Kleptokratien bestand. Ob der arabische Frühling wirklich mehr Demokratie bringt, ist ungewiss. Er zeigt uns jedoch, dass sich der Westen an seinen demokratischen Idealen messen lassen muss.

Werner Hoyer, 59, FDP-Politiker, ist Staatsminister im Auswärtigen Amt

Die Revolutionen „von unten“ in Tunesien und Ägypten zeigen: Das Modell arabischer Republiken mit autoritären Präsidenten ist gescheitert, nichts wird ab jetzt mehr so sein wie zuvor. Es gibt eine spürbare Aufbruchstimmung in weiten Teilen der arabischen Welt. Sie ist weniger ein Stabilitätsrisiko als vielmehr die Chance für eine politische und gesellschaftliche Modernisierung. Es ist in unserem ureigenen europäischen Interesse, alles dafür zu tun, dass vor unserer Haustür rechtsstaatliche, demokratische und marktwirtschaftliche Verhältnisse herrschen. Denn sie sind die besten Garanten für innere wie äußere Stabilität. Wir sind es auch den Menschen schuldig, die für Werte auf die Straße gegangen sind, die auch die unseren sind: Freiheit, Rechtsstaat, Demokratie und natürlich berufliche Chancen. Deshalb bieten wir konkrete Hilfe an – von der Vorbereitung freier und fairer Wahlen über den Aufbau demokratischer Parteien bis hin zur weiteren Öffnung des europäischen Marktes für Produkte aus Nordafrika. Der Reformprozess muss dabei fest in arabischer Hand liegen – aber wir sind zu jeder Hilfestellung bereit. Wenn die Menschen spüren, dass sich der demokratische Wandel für sie auszahlt, kann aus dem arabischen Frühling auch ein Sommer werden.

Monika Lüke, 42, ist Generalsekretärin von Amnesty International Deutschland

Die jungen Menschen in Tunesien und Ägypten haben es gezeigt: Für Freiheitsrechte, Demokratie und soziale Gerechtigkeit lassen sich Hunderttausende mobilisieren. Der Sturz der Präsidenten kann nur der erste Schritt sein. Jetzt müssen grundlegende Menschenrechtsreformen folgen, vor allem bei Justiz und Sicherheit. Die schweren Menschenrechtsverletzungen müssen nun aufgearbeitet werden. Dazu brauchen die Zivilgesellschaft und Menschenrechtsorganisationen Freiräume und natürlich freie Medien. Auch wenn die Regierungen mit Gewalt gegen Protestierende vorgehen, beweist die Demonstrationswelle: Es gibt keine Alternative zu einen Wandel für Menschenrechte und Demokratie.

Hamadi El-Aouni, 65, Dozent der Freien Universität Berlin, stammt aus Tunesien

Der arabische Frühling könnte der Beginn einer Weltrevolution sein. Die arabischen Länder haben eine gemeinsame Kultur und Sprache, haben unter dem Kolonialismus gelitten. Heute kämpft eine Jugend gegen Unterdrückung. Die arabischen Nationen müssen nun großräumig denken, nicht national. Bisher haben die Staaten des Nordens den Süden ausgebeutet. Zuerst mit dem Sklavenhandel, dann mit dem Handel mit Rohstoffen. Dies könnte allerdings bald vorbei sein. Die westlichen Staaten werden feindlich reagieren, weil Ausbeutung dann nicht mehr möglich ist. Aber sie können die Entwicklung nicht mehr aufhalten, weil ihre Völker mit den neuen Demokraten solidarisch sein werden.

NEIN

Rafi Kishon, 54, ist Tierarzt in Israel und Sohn des Satirikers Ephraim Kishon

Die Israelis wären die ersten, die sich darüber freuen würden, wenn der arabische Frühling Demokratie brächte. Leider zeigt die historisch-politische Vergangenheit, dass sich die Demokratie noch nicht im islamisch-arabischen Genom durchgesetzt hat. Es ist traurig, immer wieder zusehen zu müssen, wie arabische Völker dazu neigen, den extremistischen und gewalttätigen Kräften zu folgen. Das ist bei den Palästinensern geschehen mit der Hamas im Gazastreifen, ebenso im Libanon und im Iran. Ich persönlich empfinde große Sympathie für das ägyptische Volk, das nicht so sehr zum Extremismus neigt. Immerhin haben wir seit dreißig Jahren Frieden mit Ägypten. Auch wenn es ein kalter Frieden ist, konnten wir Israelis trotzdem hinfahren und Ägypten besuchen. Ich hoffe sehr, dass sich die demokratisch-moderaten Kräfte gegenüber den Muslimbrüdern durchsetzen werden, die einen islamischen Staat und das Recht der Scharia wollen.

Oliver Schlumberger, 40, Professor für Politik des Vorderen Orients in Tübingen

Die arabischen Dynamiken eröffnen ein „Fenster der Freiheit“. Trotz ermutigender Anzeichen aus Tunesien ist aber der ägyptische Weg zur Demokratie noch weit – von anderen Staaten ganz zu schweigen. Stark ist zweitens das Beharrungsvermögen alter Kräfte: Militärs und Geheimdienste, private Business-Oligarchen, die sich im Schatten und von Gnaden der Regime bereicherten, sowie gewaltige arabische Staatsapparate – sie alle verlieren bei einem Systemwechsel und werden ihre noch bestehende Macht ausspielen. Hinzu kommt drittens eine furchtsame westliche Nahostpolitik, welche die Politik der Region eher durch die Linse israelischer Interessen, weniger als Gegenstand an und für sich zu betrachten gewohnt ist, was arabischer Demokratie bislang abträglich war. Viertens sind die sozialen, politischen und ökonomischen Ausgangsbedingungen so unterschiedlich, dass es kaum regionübergreifende „demokratische Dominos“ geben wird. Der Westen sollte daher seine bislang fehlkonzipierte Nahostpolitik revidieren und sich auch jenseits Ägyptens auf neue Partner einstellen.

Ayman Toukabri, 36, ist ein deutsch-tunesischer Soulpop-Sänger und lebt in Berlin

Mein Vater stammt aus Tunesien – und darum haben die Ereignisse in der arabischen Welt unsere Familie sehr bewegt. Ich freue mich sehr für das tunesische und ägyptische Volk, dass sie es geschafft haben, sich aus einer langjährigen Diktatur und der Herrschaft der sogenannten Clans zu befreien. Ich halte es jedoch für unwahrscheinlich, dass es in einem arabischen Land ein demokratisches System nach europäischem Vorbild auf Anhieb integriert werden kann. Wir brauchen dazu die Unterstützung von Europa. Denn in der arabischen Geschichte findet man keinerlei demokratische Tradition. Die arabischen Völker müssen erst schrittweise lernen, was gelebte Demokratie bedeutet – und das braucht seine Zeit.

André Berthy, 44, ist Leser der taz und hat das Thema auf taz.de kommentiert

Gesellschaften, die auf autoritären tribalistischen und semifeudalen Verhältnissen fußen, demokratisieren sich nicht durch eine Reihe von Protesten. Dazu ist weit mehr nötig, wie eine freie Presse, politische Bildung und Teilhabe auf den niedrigsten Ebenen. Aber mit dem Ende von Mubarak und Ben Ali ist ein erster Schritt zu einem anderen System getan. Sollten aber die Übergangsherrscher, vor allem das Militär, sich zu Dauerherrschern wandeln, kommt nur neuer Stillstand. Damit sich echte Investitionen in die Landwirtschaft lohnen und die Abhängigkeit von politischen Importen, wie aus den USA, abnimmt, müssten Reformregierungen Marktpreise zulassen – die bei den vielen Armen zu Ärger führen würden.