„Niemand will eine Theokratie“

ÄGYPTEN Die Scharia gehört aus Ägyptens Verfassung gestrichen, meint die Soziologin Hanan Hammad. Aber das Militär will das alte System gern fortsetzen

■ ist Historikerin und lehrt an der Christian University in Austin, Texas. Sie hat über die Geschichte von Mahalla al-Kubra promoviert – jenem Ort, auf den sich die ägyptische „Protestbewegung des 6. April“ bezieht.

INTERVIEW DANIEL BAX

taz: Frau Hammad, gestern haben Tausende in Kairo den „Freitag des Sieges“ gefeiert. Hat die ägyptische Revolution denn schon gewonnen?

Hanan Hammad: Die Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz und die vielen Arbeiterstreiks sind auch eine Art, dem Militär, das jetzt die Macht hat, zu zeigen, dass man immer noch da ist. Dass es nicht mehr 1952 ist – sondern Zeit, auf die Menschen zu hören.

Exminister wurden festgenommen, europäische Konten von Funktionären des alten Regimes gesperrt. Geht es denn nicht voran?

Ja, sie säubern das System. Aber ich fürchte, das Militär macht nur ein paar Zugeständnisse, um ansonsten zum alten System zurückzukehren.

Wo steht das Militär?

Als Institution genießt es Respekt. Aber unter Mubarak hat es viele Privilegien erhalten: Wohnungen, Subventionen, Offiziersclubs am Nil, Ferienresorts am Strand. Außerdem ist die Rekrutierung der Offiziere immer elitärer geworden: Man muss Geld und Kontakte haben, damit der Sohn Karriere beim Militär machen kann. Teile der Armeeführung würden sicher auch ohne Mubarak gern das bisherige Regime fortsetzen.

Der Oberste Militärrat hat eine Verfassungskommission eingesetzt, die binnen zehn Tagen Änderungen vorlegen soll, um freie Wahlen zu ermöglichen. Worum geht es da?

In dieser Kommission sitzen alte, respektable und saubere Leute, die allerdings etwas konservativ sind. Ich bezweifele, dass es mit ihnen die fundamentalen Änderungen geben wird, die ich mir wünschen würde.

Zum Beispiel?

Artikel 2, den Präsident Sadat in den 1970ern eingeführt hat und der die Scharia zu einer der Quellen des Rechts erklärt, muss weg. Denn er entfremdet nicht nur die koptische Bevölkerung und andere Nichtmuslime von diesem Staat – sondern alle, die Religion als Privatsache betrachten

Auch die Muslimbrüder wollen die Scharia in der Verfassung lassen.

Was mir mehr Sorgen macht, ist, wie sehr die ägyptische Gesellschaft in den letzten Jahren islamisiert worden ist – auf eine populistische, oberflächliche Weise, die auf äußerliche Abgrenzung zielt. Ich fürchte, viele Leute könnten sich deshalb dafür aussprechen, diesen Artikel beizubehalten.

Viele Deutsche haben gemischte Gefühle angesichts der Revolten in Nordafrika: Sie haben Angst vor Chaos, Flüchtlingsströmen oder einer Machtergreifung durch Islamisten.

Das sind Phobien, Ängste. Ich sage nicht, dass man solche Ängste nicht artikulieren darf. Aber wenn man diese Ängste wichtiger nimmt als den Ruf nach Freiheit und sozialer Gerechtigkeit, welche Botschaft sendet man damit? Dass einem die Menschen dort egal sind – und nur die eigenen Befindlichkeiten und Ängste zählen.

Auch viele Ägypter fürchten sich vor den Muslimbrüdern. Tun Sie das nicht?

Diese Bewegung hat doch gezeigt, dass die Muslimbrüder nicht so stark sind, wie man immer dachte. Weder haben sie die Protestbewegung angeführt, noch hätten sie jemals solche Massen auf die Straße gebracht.

Was gibt Ihnen die Zuversicht, dass sie keine Wahlen gewinnen?

Erstens wollen diese jungen Leute, von der die Demokratiebewegung ausgeht, keine Theokratie wie in Saudi-Arabien oder Iran, sie fühlen sich vielmehr mit der grünen Bewegung im Iran verbunden. Hinzu kommt, dass sich die Muslimbrüder immer als Opposition verstanden und sich dabei als opportunistisch erwiesen haben: Mal hat ihnen das Regime etwas Spielraum gewährt, um die säkulare Öffentlichkeit einzuschüchtern, dann wurden sie wieder zurückgedrängt. Mit diesen Manövern haben sie sich diskreditiert.

Die neue Ministerin für Handel und Industrie, Samiha Fausi, hat sich zur Fortsetzung der liberalen Marktreformen bekannt. Ist das gut?

Offene Märkte sind nicht per se schlecht. Aber unter Mubarak hat sich eine Gruppe von Dieben das öffentliche Eigentum aufgeteilt. Das wollen wir nicht mehr. Das System muss transparent sein – und es muss den unteren Schichten zugutekommen. Eine Mehrheit der Ägypter ist arm, 40 Prozent leben unter der Armutsgrenze. Der Staat muss für sie sorgen: zum Beispiel durch freie Bildung und ein Gesundheitssystem für alle.

Rund 20.000 Textilarbeiter in Mahalla al-Kubra streiken und fordern, wie die Beschäftigten am Suezkanal, mehr Geld. Ist das realistisch?

Diese Betriebe sind defizitär, weil sie von inkompetenten Leuten geführt werden, die vom Staat entsandt werden. Die Arbeiter fordern nicht nur höhere Gehälter, sondern auch ein besseres Management. Das obere Management der Staatsbetriebe wird vom Staat bestimmt. Und da ging es bisher selten um Qualifikation, sondern um Gefälligkeiten für pensionierte Exgeneräle und regimetreue Kader.

Wie lässt sich Ägyptens politisches System jetzt demokratisieren?

Das ganze System muss sich ändern. Der Präsident sollte nicht mehr, wie seit Nassers Zeiten, eine Art Alleinherrscher sein, dessen Regierung nur aus fantasielosen Technokraten und korrupten Geschäftsleuten besteht. Auch wenn es bisher ein Parlament und eine formal unabhängige Justiz gab – am Ende bestimmte immer der Präsident. Wir brauchen echte Gewaltenteilung und mehr Transparenz.

Erhoffen Sie sich davon auch besseren Schutz vor Korruption?

Ja. Diese Korruption hat zum Beispiel dazu geführt, dass mehr als tausend Menschen ertranken, als vor zwei Jahren eine Fähre, die zwischen Ägypten und Saudi-Arabien verkehrte, einfach so im Roten Meer versank – und der Besitzer dieser Fähre blieb völlig straffrei, weil er ein Geschäftspartner von Gamal Mubarak gewesen sein soll und als Mitglied des Parlaments Immunität genoss. Ein anderer Geschäftsfreund von Mubarak hatte die Lizenz, allen staatlichen Krankenhäusern Blutbeutel zu liefern. Nur waren diese Blutbeutel leider kontaminiert, sodass viele Patienten dadurch umgekommen sind. Es gibt viele solcher Geschichten in Ägypten: Das Ausmaß der Korruption war kriminell.