Ist die Atomkraft jetzt am Ende?
JA

WENDE Nach der Nuklearkatastrophe in Japan nimmt die Bundesregierung die acht ältesten AKWs vom Netz – vorübergehend

Pressestelle EnBW: „Wir können die Beantwortung Ihrer Frage zeitlich nicht abbilden.“ Pressestelle Eon: „Keine Zeit.“ Pressestelle RWE: „Wir möchten uns dazu nicht äußern.“ Pressestelle Vattenfall: „Wir haben ja nur zwei AKWs, deren Führung wir bald an Eon übergeben.“

Philip White, 53, ist Sprecher des japanischen Anti- AKW-Zentrums CNIC in Tokio

Ich bin zuversichtlich, dass es nach diesem Desaster keine erneute Renaissance der Atomenergie geben wird. Finanzanalysten haben Atomaktien ja schon zurückgestuft, weil das Anlagerisiko zu groß geworden ist. Die Nuklearindustrie steckt jetzt in größten Schwierigkeiten – verdientermaßen. Aber sie ist in den Schadensbegrenzungsmodus gewechselt: Sämtliche AKW-Betreiber behaupten jetzt ganz betroffen, Fukushima sei ein Sonderfall und neue Reaktoren seien völlig sicher. Als Nächstes werden sie ein paar kosmetische Änderungen vornehmen und der Öffentlichkeit vorgaukeln, damit sei es getan. Aber die meisten werden sich solche Alibis nicht mehr bieten lassen. Japan hat sich selbst in diese lächerliche Situation gebracht. Es gibt hier schon seit Jahrzehnten eine gut organisierte Anti-AKW-Bewegung, aber bislang war die Atomlobby zu stark. Japan sollte diese Katastrophe zum Anlass nehmen, um komplett auf erneuerbare Energien umzusteigen – und das gilt auch für alle anderen Länder. Wir brauchen weltweit verbindliche Ausstiegspläne. Sonst werden Tschernobyl und Fukushima nur der Anfang sein.

Angelika Claußen, 59, war Leiterin der atomkritischen Ärzte- NGO IPPNW

Nach Hiroshima und Tschernobyl erlebt die Menschheit jetzt die dritte große atomare Tragödie. Radioaktive Strahlung kann schon in geringster Dosis verheerende Folgen haben. Wir sollten die deutschen AKWs sofort und endgültig abschalten; erneuerbare Energien und Stromsparmaßnahmen können sie in Kürze überflüssig machen.

Robert Werner, 43, ist Vorstand der Energiegenossenschaft „Greenpeace Energy“

Die Atomenergie war schon vorher am Ende. Ob in Harrisburg, Tschernobyl, Forsmark oder jetzt Fukushima – die Verantwortlichen hielten keine der atomaren (Beinahe-)Katastrophen für möglich. Und doch sind sie passiert, meist in Ländern mit „höchsten Sicherheitsstandards“. Nun sagt Norbert Röttgen, Fukushima sei nicht vorhersehbar gewesen. Weiß denn Herr Röttgen erst seit Freitag, dass es Erdbeben geben kann? Und kennt er deren Zusammenhang mit Tsunamis nicht? Hoffentlich ist ihm wenigstens klar, dass hier täglich tausende Flugzeuge fliegen, gegen deren Absturz kaum ein Reaktor gesichert ist. AKWs müssen schnellstens durch Wind- und Gaskraftwerke ersetzt werden. Energiewende jetzt! Und nicht vielleicht in drei Monaten. Die WählerInnen sind am Zug.

Judith Maisenbacher, 29, kommentierte die Streitfrage online auf taz.de

Neckarwestheim I wird endgültig abgeschaltet. Wie lange haben wir vom südwestdeutschen Antiatomwiderstand auf diese Nachricht gewartet. Wie viel Zeit und Energie in Mobilisierung, Demonstrationen, Blockaden, Kletteraktionen gesteckt. Unermüdlich. Jahrzehntelang: Sonntagsspaziergänge mit sehr schwankenden Teilnehmerzahlen. Heute ist der Tag gekommen, der unser Triumph hätte werden können. Aber mir ist nur zum Heulen zumute! Warum muss es immer erst zur Katastrophe kommen, bevor sich was bewegt?

NEIN

Dieter Henning Marx, 47, ist seit 2002 Geschäftsführer des Deutschen Atomforums

Die katastrophalen Ereignisse von Fukushima werfen Fragen für die Kernenergie auf. Dies gilt besonders bei der Auslegung kerntechnischer Anlagen für große Naturkatastrophen. Der Einsatz der Kernkraft in Gebieten mit sehr hohem Erdbebenrisiko oder gar dem Risiko von extremen Tsunamis wird neu bewertet werden müssen. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass auch andere Energieformen mit Risiken behaftet sind: das zunehmende Klimarisiko aller fossilen Energieträger oder das Erdbebenrisiko, dem auch viele Wasserkraftwerke ausgesetzt sind. Die Vor- und Nachteile verschiedener Energieträger muss man unter Berücksichtigung der lokalen Verhältnisse abwägen, nicht nur bei der Kernkraft. Das Restrisiko der Kernenergie kann und muss jedoch fortlaufend technisch minimiert werden. Ein grundsätzliches Ende der Kernkraft ist international nicht abzusehen. Auch in Deutschland wird man nicht so schnell auf sie verzichten können. Sie bietet eine bedarfsgerechte, zuverlässige Stromversorgung bei sehr geringer CO2-Intensität zu günstigen Kosten.

Die sonntaz-Frage wird vorab online gestellt. Immer Dienstagnachmittag. Wir wählen eine interessante Antwort aus und drucken sie dann in der sonntaz.

www.taz.de/sonntazstreit

Peter Lösche, 72, Politologe, lehrte bis zu seiner Emeritierung an der Universität Göttingen

Nein, die Atomkraft ist nicht am Ende. Allenfalls gibt es in der deutschen Atompolitik eine Rückwende zum rot-grünen Atomausstieg. Das liegt an zwei deutschen Besonderheiten und ist nicht auf andere Staaten übertragbar. Erstens: Im Unterschied zu fast allen anderen Ländern ist bei uns seit Jahrzehnten die Anti-AKW-Bewegung einflussreich, lebendig und durch die Grünen im Parteiensystem verankert. Zweitens: Angesichts des japanischen Dramas fokussiert sich in Deutschland der öffentliche Druck momentan auf die Landtagswahl in Baden-Württemberg, seit seiner Gründung schwarz regiertes Bundesland und daher von größter Symbolkraft. Merkel musste angesichts der japanischen Nuklear-Katastrophe in höchster Not handeln, um ihre Kanzlerschaft nicht gänzlich erschüttern zu lassen. Ansonsten aber versuchen die Energieunternehmen, Profite dadurch zu machen, dass die Laufzeiten der alten Atomkraftwerke verlängert werden. Zwischen Finnland und Asien werden sogar neue Reaktoren und Meiler gebaut, allein in Russland elf. Und das, obwohl Fukushima allen in den Knochen und auf der Seele sitzt.

Klaus Breil, 65, ist energiepolitischer Sprcher der FDP und war zuvor Finanzanalyst

In Japan ist erneut deutlich geworden, dass die Beherrschung der Kernkraft Risiken birgt. Aber: Wir haben in Deutschland weder Erdbeben japanischer Stärke noch Tsunamis. Deshalb macht es wenig Sinn, in Panik zu verfallen. Die schwarz-gelbe Koalition hat mit ihrem revolutionären Energiekonzept vom Herbst letzten Jahres den Weg in das Zeitalter der erneuerbaren Energien geebnet. Angesichts der Ereignisse in Japan werden wir versuchen, unsere Ziele noch schneller als ursprünglich vorgesehen zu erreichen. Dazu werden wir den Leitungsausbau und die Entwicklung der Speichertechnologie beschleunigen müssen. Deshalb muss sich die Opposition fragen lassen, ob sie ihren kontraproduktiven Widerstand an dieser Stelle weiter aufrechterhalten will. Für einen begrenzten Zeitraum werden wir auch nicht ganz ohne Kernkraft auskommen. Nur so sind eine sichere Versorgung, die Einhaltung der Klimaziele und ein bezahlbarer Strompreis zu gewährleisten.