Keine Angst vor der Zukunft

EURO-KRISE Spaniens Protestbewegung der „Empörten“ steht erst am Anfang. Sie hat das Potenzial, nicht nur ihr eigenes Land grundlegend zu verändern

■ 65, ist ein marxistischer Intellektueller und Publizist. Als Gegner der Franco-Diktatur lebte er von 1969 bis 1973 im Exil in Frankreich. Heute lehrt er als Profesor an der Fernuni „Universidad Nacional de Educación a Distancia“ (Uned).

Ein erstes Ziel hat sie schon erreicht, die „Bewegung des 15. Mai“, Spaniens Bewegung der „Indignados“ („Entrüsteten“): Sie ist dabei, die politische und soziale Landschaft Spaniens grundlegend zu verändern. Und das, obwohl es sie gerade erst einige Wochen gibt.

Es begann am 15. Mai, dem Tag, der der Bewegung später ihren Namen gab. Zehntausende Menschen aller Altersstufen gingen auf die Straße, in fast hundert spanischen Städten. Sie protestierten gegen das politische und wirtschaftliche System. Sie besetzten zentrale Plätze und begannen noch am ersten Tag damit, ihre Bewegung auf feste Füße zu stellen. Das ist einer der bemerkenswerten Aspekte dieser Bewegung: Die Protagonisten waren gezwungen, sich selbst zu organisieren, Ziele und Forderungen zu definieren und neue Perspektiven zu finden.

Einer der wichtigsten Punkte der Bewegung ist beispielsweise, dass sie gegen Zwangsräumungen protestiert. Diese betreffen vor allem Familien mit Migrationsgeschichte, die es, bedingt durch die Krise und die hohe Arbeitslosigkeit, nicht schaffen, ihre Kreditschulden zu tilgen. Wer in der Zeit vor dem Platzen der Immobilienblase, als die Preise astronomisch hoch waren, eine Wohnung gekauft hat, musste einen entsprechend hohen Kredit aufnehmen. Mit dem Platzen der Blase stieg die Arbeitslosigkeit – und damit auch die Zahl der Menschen, die ihre Raten nicht mehr zahlen können. Ihnen droht die Zwangsräumung.

Ein weiterer Punkt sind die Proteste vom 19. Juni gegen den „Pakt für den Euro“. Als letzter Schlag gegen einige bröckelnde Wohlfahrtsstaaten der Europäischen Union hat er das Potenzial, die Bewegung lange am Leben zu erhalten. Geplant sind derzeit weitere Aktionen zum 15. Oktober und ein Generalstreik noch vor Jahresende.

Kritischer Moment in Barcelona

In jeder Bewegung gibt es gibt kritische Momente. Der bislang kritischste Moment der Bewegung des 15. Mai war, als Mitte Juni das Parlament in Barcelona tiefe Einschnitte in die Sozialausgaben der Region beschließen sollte. Dagegen wollten die Demonstranten mit einer Blockade vor dem Parlamentsgebäude protestieren. Doch es blieb nicht bei friedlichen Protesten. Politiker gelangten nur unter Polizeischutz in das Gebäude, es kam zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizisten. Noch ist unklar, welche Rolle dabei die Polizei gespielt hat. Sicher aber ist, dass die Bewegung Schaden genommen hat. Denn durch den Vorfall konnten Institutionen und Medien die Ziele und das Vorgehen der Aktivisten in Frage stellen.

Obwohl Menschen aller Altersklassen bei den Demonstrationen und Versammlungen vereint sind, engagieren sich zum großen Teil junge Menschen. Das bedeutet: Mit der Bewegung des 15. Mai wächst eine neue Generation des Protests heran. Eine Generation, die zwar kaum finanzielle Ressourcen hat, aber auch keine Angst – weder vor der Gegenwart noch vor der Zukunft. Und mit dieser neuen Generation des Protest wächst auch eine neue Vorstellung davon heran, wie Politik gestaltet werden kann. Nämlich von unten und in Abgrenzung zur Politik von Parteien und Gewerkschaften – auch zu denen, die ganz links stehen.

Mehr Partizipation wagen

Es sind die Ideen von partizipativer Demokratie und sozialer Justiz, die die Bewegung ausmachen. Beide hängen zusammen. Sie hallen in den Debatten wider, die auf den öffentlichen Plätzen stattfinden, in den großen Versammlungen ebenso wie in den spezialisierten Kommissionen. Dazu gehören die Abschaffung von Privilegien der politischen Klasse, flexiblere Regularien für Volksinitiativen und Referenden, die Ablehnung von Kürzungen bei Löhnen, Gehältern und Pensionen, eine Reform des Steuerrechts, die Gründung einer öffentlichen Bank mit einer fundamental anderen Politik und die Verteidigung der öffentlichen Daseinsvorsorge. Diese Forderungen werden von der überwiegenden Mehrheit der Beteiligten mitgetragen.

Natürlich muss die Bewegung des 15. Mai im europäischen Kontext betrachtet werden, denn sie begrenzt sich keinesfalls auf Spanien. Schon nach der ersten Demonstration in Madrid übertrug sich der Protest auf andere europäische Hauptstädte.

Das zeigt: Das Wissen um die Schwere der finanziellen, wirtschaftlichen und sozialen Krise ist nicht nur in Spanien allgegenwärtig. Vielmehr sind sich die Bürger bewusst, dass diese Krise Ursachen hat, die in allen Ländern ähnlich sind. Und dass alles, was die Europäische Union als Lösung verspricht, nur eine weitere Verschärfung der sozialen Ungleichheit und der gesamten Krise bewirkt. Der Blick auf Staaten wie Griechenland zeigt: Alle haben die gleichen Probleme. Keiner sollte sie für sich allein und ohne Hilfe der Nachbarn lösen müssen.

Gegen „Diktatur der Märkte“

Die Bürger wissen, dass die Ursachen der Krise in allen Ländern ähnlich sind – und die Politik die soziale Ungleichheit verschärft

Der wichtigste Erfolg der Bewegung ist ihre breite Akzeptanz in der Gesellschaft. Mit dieser Akzeptanz wird sie als Kraft gegen die politischen Parteien weiter funktionieren. Denn die Wahlen am 22. Mai haben gezeigt, dass die Parteien an Akzeptanz verlieren: Der Anteil derer, die nicht oder ungültig gewählt haben, lag bei 37 Prozent. Parolen wie „Sie nennen es Demokratie, aber das ist es nicht“ und „Sie repräsentieren uns nicht“ zeigen, dass die Bereitschaft vorhanden ist, weiter friedlich mit Mitteln des zivilen Ungehorsams gegen eine antisoziale Politik zu demonstrieren. Die Menschen glauben daran, dass es einen anderen Weg aus dieser Krise geben muss als den, zum dem uns die „Diktatur der Märkte“ zwingt.

Natürlich ist die Bewegung des 15. Mai immer noch im Aufbau begriffen. Aber sie hat es geschafft, schnell ins Zentrum der politischen und medialen Debatte zu rücken. Sie wird von der Öffentlichkeit als maximal glaubwürdig wahrgenommen. Es sieht nicht danach aus, als würde sie sich nach und nach auflösen. Vielmehr wird sie auch in Zukunft eine wichtige gesellschaftliche und politische Rolle spielen.

Die Politik selbst könnte ihr dafür die Vorlage liefern: Denn bei den nächsten Wahlen wird wahrscheinlich die konservative Partido Popular der Gewinner sein. Und diese steht mit ihren Zielen noch mehr im Gegensatz zu der Bewegung als die derzeit regierenden Sozialdemokraten. JAIME PATOR

Übersetzung Svenja Bergt