Kann man ohne Sex gut leben?
JA

BEGEHREN Wer keinen Sex hat, gilt in einer Gesellschaft voller Porno-Chic und Stellungstipps schnell als Loser. Dabei fühlen sich manche auch ganz ohne wohl

Die sonntaz-Frage wird vorab online gestellt. Immer Dienstagnachmittag. Wir wählen interessante Antworten von Lesern und Leserinnen aus und drucken sie in der nächsten sonntaz.

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Martin Goldstein, 83, war von 1969 bis 1984 der Dr. Sommer der Bravo

Ob man ohne Sex gut leben kann? Das kommt ganz auf die Definition an. Ich bin alt und habe Prostatakrebs. Der wird so behandelt, dass meine sexuelle Potenz auf null geht. Wenn ich unter Sex nur den Koitus verstehen würde, mit Glied in Scheide, müsste ich ohne leben. Da ich aber ein Ganzkörperliebhaber bin, der mit Haut, Haaren und Händen liebt, bringe ich immer noch eine Masse Libido unter. Auch als ich hochpotent war, habe ich das so praktiziert. Der Höhepunkt war für mich die Lust am Fühlen, Riechen, Schmecken. Das hat mich befriedigt, auch ohne eigenen Orgasmus. Ich ersetze den jetzt mit libidinösen Zärtlichkeiten – und mit schöpferischen Arbeiten. Ein bisschen ist das wie bei Asketen, Mönchen oder Nonnen. Mit ihrer Art von Meditation oder Nächstenliebe und sozialem Tun ersetzen sie den Sex, und manche schaffen es, diesen Konflikt zu verdrängen, den der Verzicht bringt. Durch die sexuelle Revolution fühlten manche den Zwang, sie müssten Koitus-Sex haben, sonst wären sie inkomplette Menschen. Ich halte das für eine biografische Störung. Aber der Konflikt beschäftigt auch viele junge Teenager, Mädchen etwa, die den Trieb noch nicht spüren und sich gezwungen fühlen, weil der Freund das will. Und nicht sagen: „Ich bin nicht so weit, lass es uns beim Schmusen belassen.“ Was klug wäre. Denn das Schmusen ist keine Ersatzhandlung, sondern ein Wert für sich.

Frank Dahlke, 43, ist Gründer und Mitarbeiter des Asexuellen Radios Berlin

Ich vermisse Sex nicht. Auf körperliche Beziehungen bin ich nicht aus. Lange wusste ich nicht, wie mein fehlendes Verlangen einzuordnen ist. Mit 37 Jahren las ich dann einen Zeitungsartikel über Asexualität, über Menschen ohne Bedürfnis nach sexueller Interaktion mit anderen – da machte es klick. Heute gehe ich mit meiner Asexualität sehr offen um, die Menschen in meiner Umgebung reagieren unterschiedlich. Meine Mutter hat mein nicht vorhandenes Sexualverlangen sehr positiv aufgenommen. Manche Arbeitskollegen auf dem Bau halten mich für schwul, weil ich mich nicht für die Bildchen auf Seite eins begeistere. Ich lebe ohne Partnerin, ich bin für viele Menschen ein guter Freund.

Eva Jaeggi, 77, ist Therapeutin, Sozialforscherin, Autorin, Ausbildungsleiterin

Ja, es gibt Möglichkeiten, auch ohne Sex gut und glücklich zu leben. Nicht nur Mönche und Eremiten leben ohne Sex in manchen Fällen gut und glücklich. Eine wichtige allgemeine Voraussetzung ist die Fähigkeit der Sublimierung, das heißt, es muss sich um Menschen handeln, die die Energie „natürlicher“ Triebe ohne Ressentiments in sozial wertvolle und sinnstiftende Tätigkeiten überführen können. Es ist andererseits aber auch nötig, im sozialen Umfeld solche sinnstiftenden Handlungen zu suchen. Das können spirituelle, kreative oder soziale Tätigkeiten sein. Fehlt diese Fähigkeit einem Menschen, dann ergeben sich allerdings allzu oft aus erzwungenem Leben ohne Sex die bekannten Folgen der Verklemmung.

Sigrid Tapken, 46, leitet eine urologische Praxis und ist Sexualberaterin

Es gibt Frauen wie Männer, die ohne Sex gut leben. Sex kann im ungünstigen Fall zu Verzweiflung oder Krankheit führen. Sicher ist: Jeder Mensch sucht einen Weg zur Lebenszufriedenheit, Geborgenheit und Möglichkeiten zur Selbstwertgefühlssteigerung. Eine gute Beziehung ist durch viele Farben des gemeinsamen Lebens gesichert und stabil, dafür ist Sex eher eine unsichere Gefühlswelt und das macht Sex oft aus. Wichtig ist, dass wir hin und wieder mal „Stop“ sagen und uns dann fragen: „Geht’s mir gut?“ Das Instrument der Kommunikation hilft einem dabei sehr: Bücher, Radio, Freunde. Fazit: Ohne Sex kann man gut leben.

NEIN

Meik Schirpenbach, 39, ist katholischer Priester im Erzbistum Köln

Wenn ich die Frage so verstehe, dass ein Leben grundsätzlich ohne Zärtlichkeit und körperliches Empfinden gemeint ist, dann möchte ich die Frage verneinen. In diesem Sinne kann niemand ohne Sex gut leben. Auch als katholischer Priester empfinde ich als Mann, und Nähe ist mir wichtig. Ich erlebe als Seelsorger aber, dass es vielen Menschen nicht möglich ist, ihre Sexualität in einem umfassenden Sinne glücklich auszuleben. Viele Sehnsüchte bleiben unerfüllt. Träume zerbrechen. Manche Glückserwartungen mögen vielleicht auch überzogen sein. Meinen eigenen Verzicht, den ich manchmal schmerzhaft spüre, verstehe ich auch als eine gelebte Solidarität mit solchen Menschen, die mich empfindsam macht und mir Nähe ermöglicht. Ohne die Bereitschaft, verletzbar zu sein, ist keine Nähe zu haben. Auch das gehört zum guten Leben.

Renate Wichers, 62, ist Autorin und schrieb ein Buch mit dem Titel „Nie wieder Sex“

Von den Männern und Frauen, mit denen ich in meinem Buch sprach, lebt keiner wirklich gut ohne Sex – auch wenn sie es sich zum Teil schönreden. Zum Leben gehört ein Partner, mit dem man auch Sex hat. Ausnahmen gibt es immer, und sicherlich ändert sich im Laufe eines Lebens der Stellenwert von Sexualität. Nichts ist heute so sehr ein Tabu, wie zuzugeben, dass man keinen Sex hat. Trotzdem denke ich, dass Sex in unserer Gesellschaft überbewertet wird. Sex, wie in den Medien dargestellt, entspricht nicht dem, was im tatsächlichen Leben zwischen Menschen abläuft. Nirgendwo wird so viel gelogen wie beim Thema Sex. In einer Gesellschaft, in der Leistung und Konsum immer mehr in den Vordergrund getreten sind, werden die Erwartungen an Sex immer höher geschraubt, angefangen vom Aussehen bis hin zum gesellschaftlichen Status des Partners oder der Partnerin. Diese Ansprüche erfüllen zu können, macht sicherlich auch Angst, Frauen wie Männern. Doch Sex nur um des Sexes willen, wie zum Beispiel in Swingerclubs oder Darkrooms, beziehungslos und als eine Art Leistungssport betrieben, reduziert auf den Austausch von Körperflüssigkeiten, finde ich armselig und würdelos.

Martin Fensch, 40, leitet die Pressestelle bei Viagra-Erfinder Pfizer Deutschland

Die meisten erwachsenen Menschen, egal ob Männer oder Frauen, in Partnerschaften oder als Single, können oder wollen auf Sex nicht verzichten. Was alle immer schon geahnt hatten, wurde durch die Studiendaten des US-Sexualforschers Alfred Kinsey in den 1950er-Jahren erstmals empirisch bestätigt. Heute ist kaum noch vorstellbar, welche Aufregung die Kinsey-Reports damals verursachten. Eine Pille hilft seit 1998, die Potenzprobleme von Männern erfolgreich zu behandeln und die Chancen auf eine erfüllte Partnerschaft zu verbessern. Mancher sieht hier statt Freiheit die Technologisierung der Liebe aufziehen. Aber Sex und Liebe sollte man nicht verwechseln. Kommt beides zusammen, umso besser.

Katja Sundermeier, 44, ist Buchautorin und arbeitet als Paartherapeutin

Wir drücken durch und mit unserem Körper Liebe und Zuneigung aus. In einer Beziehung ohne Sex fehlt ein Bereich der Liebe – als würden wir einen Porsche mit angezogener Handbremse fahren. Der menschliche Körper braucht Berührungen, Sex baut Aggressionen ab und macht uns nachweislich gesünder und glücklicher. Natürlich gibt es Menschen, die aufgrund einer Krankheit oder eines Unfalls keinen Sex haben können. Es lässt sich jedoch immer eine eigene Sexualität finden. Partnerschaften, in denen es keine Sexualität mehr gibt, verdrängen dieses Problem häufig. Es werden äußere Umstände verantwortlich gemacht, jeder Partner hält sich fest an der Hoffnung, der Sex komme von alleine zurück.