GEORG BLUME ÜBER INDIENS RAKETENSTART
: Die wahren Sorgen des Tigers

Zum ersten Mal hat Indien eine atomfähige Interkontinentalrakete getestet. Erwacht jetzt der indische Tiger, um der militärischen Übermacht Chinas die Stirn zu bieten? So hätten es viele westliche Strategen gern, die nach jedem neuen Militärstreich in Asien ein gefährliches Wettrüsten zwischen Indien und China herbeireden – um damit die amerikanische Dominanz im Pazifik und im indischen Ozean zu rechtfertigen.

Doch Indien tickt anders. Es rüstet nicht um die Wette. Es rüstet sehr langsam nach. Sein Militärhaushalt entspricht höchstens einem Viertel des chinesischen – es liegt im Verhältnis zu China mindestens so weit zurück wie China hinter den USA. Deshalb wollte auch niemand in Delhi den Raketentest zum Kräftemessen mit Peking hochjubeln. Vielmehr erzeugte der Test einen Ausbruch naiven Nationalstolzes: Endlich glaubt sich das Land im Club der großen Atomnationen. Indiens militärische Sorgen aber liegen ganz woanders. Die meisten Militärflugzeuge des Landes stammen aus den 60er Jahren. Die über eine Million Mann starke Armee ist verarmt und entnervt. Obwohl es ihr großes Verdienst ist, seit 1947 nicht ein einziges Mal gegen die Demokraten in Delhi aufgemuckt zu haben, herrschen große Spannungen zwischen Militärs und Regierung, die kürzlich sogar zu Putschgerüchten führten. Das liegt auch an dem zermürbenden Konflikt mit Pakistan. Noch immer ist ein Großteil der Armee an der Grenze zum Nachbarland postiert. Die Bedingungen dort sind für alle Beteiligten grausam. Deshalb kritisiert man China in Indien oft mehr als Verbündeten und Waffenlieferer Pakistans denn als großen atomaren Rivalen.

Indiens erste Interkontinentalrakete bestätigt insofern nur die alte Zweitschlagdoktrin des Landes. Die hat dem Land bisher wenig geschadet und auch China nicht gestört.

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