Falsche Paradiese

SCHLAGLOCH VON KERSTIN DECKER Rousseau ist der Herr der einfachen Wahrheiten. Nie ohne Voltaire lesen!

■ ist promovierte Philosophin und lebt als freie Autorin in Berlin. Zuletzt schrieb sie hier über das Buch „Der Kulturinfarkt: Von allem zu viel und überall das Gleiche“.

Das Wandern ist eine eher moderne Erfindung, welche die elementare Freiheit voraussetzt, sich von einem Ort zu entfernen. Lange Zeit wanderte man nur in höherem Auftrag, das nannte man dann pilgern. Zum Wanderer kann man auf sehr verschiedene Weise werden. Rousseau etwa stand mit fünfzehn Jahren an einem Sonntagabend bei der Rückkehr von einem Spaziergang vor dem bereits verschlossenen Stadttor. Da beschloss er, seinen Spaziergang einfach fortzusetzen.

Der erste Transitreisende

Das hat ihm trotz mancher Wirrnisse so gut gefallen, dass er zum besten Freund der Natur und des einfachen Lebens wurde. Darum ist auch der Hausheilige aller Aussteigerkolonien, die sich vom komplizierten und unüberschaubaren Dasein bei einfachen Wahrheiten erholen: „Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten.“ Voltaire dagegen, den mit Rousseau nicht viel mehr als das Todesjahr 1778 verbindet, wanderte anders, etwa so, wie Hegel durch die Alpen ging, aufs Höchste belästigt von der geistlosen Natur, oder wie der junge Schopenhauer: Welch hässliches Elend überall! Wo Rousseau sich dem heilen Ursprung hingibt, da geht Voltaire mit ironischer Distanz durch die Welt – sein „Candide“ ist die Austreibung aller Naivität und sein Autor der erste Transitreisende Europas.

Was sagt uns das nun in Zeiten, in denen unsere flugreisende Bundeskanzlerin mit den Herren Monti und Hollande über Europas Zukunft verhandelt? Dass man dieselben Dinge sehr unterschiedlich sehen kann, nicht nur in Berlin oder Brüssel, Paris oder Rom, von Madrid oder Athen gar nicht zu reden. Man sieht immer nur, was man sehen will. Kontostände etwa, private oder die des Staates, oder die unaufhaltsam ablaufende eigene Lebenszeit oder die von ganz allein blühenden Wiesen rechts und links der Autobahnen, wenn man Glück hat und dieses Stück Land nicht auch längst Opfer einer Spekulation geworden ist. Weise wäre es, all dies zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Aber seltsamerweise macht das fast niemand. Das hat wohl mit eigenen Affekten und Interessen zu tun, die immer separatistisch zu werden drohen. Aber das ist auch wieder eine ungenügende Erklärung.

Warum bleibt der Prediger des einfachen Lebens Rousseau noch 300 Jahre nach seiner Geburt so gegenwärtig? Weil er die Frage nach einem nicht entfremdeten Leben stellt, auf die wir bis heute nur unzureichende Antworten gefunden haben. Denn unsere Art, uns eine Verfassung des Zusammenlebens zu geben, scheint am Maßstab Rousseaus arg reformbedürftig. Wenn dieser über Natur spricht, meint er auch die der Gesellschaft – und leider ist es nicht so, dass sie durch Aufklärung und Fortschritt perfekter wird, man könnte sogar das Gegenteil vermuten und von Verfall sprechen.

Die Lüge vom Privateigentum

Ein Satz aus dem „Gesellschaftsvertrag“ veraltet nicht: „Der Erste, der ein Stück Land mit einem Zaun umgab und auf den Gedanken kam, zu sagen „ ‚Dies gehört mir‘ und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der eigentliche Begründer der modernen Welt.“ An paradiesische Urzustände mag glauben, wer will, die fortschreitende Privatisierung des uns allen gegebenen Reichtums ist ein Faktum. Und das hat das Gerechtigkeitsempfinden provoziert, zur Revolution und Revolte – oder auch zu alternativen Lebensformen geführt. Gemeinschaft statt Gesellschaft!, lautete das Zauberwort von der Lebensreformbewegung bis zur Hippiekommune.

Tolstoi machte die Knechte seines Gutes zu Herren, was denen sehr unangenehm war: Musste Gott ausgerechnet sie mit einem Herrn strafen, der gar kein richtiger Herr war? Tolstoi musste mit ansehen, wie ein Typus sich profilierte: der Hüter der reinen Lehre, der Abtrünnige zu verfolgen begann! Denn schafft man das ungerecht verteilte Eigentum ab, was wird dann zum Maßstab des Zusammenlebens? Die Moral! Und das ist die Stunde der verfolgenden Unschuld, zuletzt der Politkommissare. Die Geschichte der Kirchen und des Kommunismus ist auch ein Beitrag zur Rousseau-Lektüre.

Hesse – ein zweiter Rousseau?

Die Moral! Das ist immer die Stunde der verfolgenden Unschuld, zuletzt der Politkommissare

Hermann Hesse, zweiter Jubilar dieses Sommers, der vor fünfzig Jahren in Montagnola starb, flüchtete 1907, als ihm das Dasein als Erfolgsschriftsteller, Ehemann und Familienvater, aber auch das als Fleischesser und Weintrinker zu beschwerlich wurde, auf den Monte Verità, jene Lebensreformkolonie bei Ascona, wo man splitternackt auf die Berge klettern oder einfach in der Sonne liegen und sich die Haare lang wachsen lassen konnte. Doch nichts, bemerkte Hermann Hesse schnell, ist so anstrengend wie alternative Lebensart als Lebensinhalt!

Hesse – ein zweiter Rousseau? Man lese zum 50. Todestag am 9. August unbedingt seinen kleinen Text „Doktor Knölges Ende“, der einen harmlos rousseauistisch gestimmten Bürger (ihn selbst) unter lauter Bestien aussetzt. Kein tieferer Graben als der zwischen einem laschen Vegetarier und einem Rohköstler strenger Observanz! Endet die schöne Utopie vom einfachen Leben also zwangsläufig im weltanschaulichen Krieg zwischen Vegetarianern, Vegetabilisten, Frugivoren und Gemischtkostlern – allesamt Inhaber der einzig wahren Lehre? Doktor Knölge, zum Fanatismus nicht begabt, wird am Ende von einem auf dem Baum lebenden Naturmenschen erschlagen, der Karl Gräser (vormals Offizier und dann ebenso militanter Verfechter des alternativen Lebens) nachempfunden ist. Kein Wunder, wenn Hesse über den Monte Verità ketzerische Dinge schreibt: „Die meisten dieser in Europa und Amerika entgleisten Menschen trugen als einziges Laster die so vielen Vegetariern eigene Arbeitsscheu mit sich.“ Das klingt fast so, als sprächen deutsche Politiker über Griechenland, obwohl dort wohl nur wenige Vegetarier leben.

Aber was sagt uns das nun über Rousseau? Vielleicht, dass man ihn immer nur mit seinem Antipoden Voltaire zusammen lesen sollte. Kein Pathos ohne ironische Distanz, kein Glaube ohne Skepsis! Wenn Angela Merkel mit den Herren Monti und Hollande gelegentlich nach gemeinsamen geistigen Wurzeln Europas suchen wollte, wäre die anhaltende Provokation Rousseaus schon mal ein Anfang.