INES KAPPERT ÜBER DAS FRANZÖSISCHE MANIFEST VERGEWALTIGTER FRAUEN
: Noch mittendrin im Tabu

Solange wir das hundertprozentige Opfer fordern, wird Vergewaltigung weiter geduldet werden

Wir sind in Sachen Vergewaltigung längst nicht so aufgeklärt, wie wir das gern von uns denken.

Wehe, Frau oder Mann haben die Situation falsch eingeschätzt, haben dem Aggressor selbst die Tür ihres Appartements oder ihres Schlafzimmers geöffnet – die allermeisten Opfer kennen ja ihren Vergewaltiger: Dann geht die Beweisaufnahme aber schnurstracks zulasten der AnklägerIn.

Die Krux ist: Nach wie vor wird das hundertprozentige Opfer gefordert. Das aber findet sich unter Erwachsenen selten, weswegen dann sehr schlicht gilt: Im Zweifel für den Angeklagten, im Zweifel gab es keine Gewalt, nur Missverständnisse oder frigide Menschen. Bernard-Henri Levis Verteidigung von Dominic Strauss-Kahn vor einem Jahr klirrt noch in den Ohren: „puritanischer Irrsinn“.

Sexuelle Gewalt ist Alltag. Sie richtet sich gegen Erwachsene und Kinder, vor allem aber keineswegs nur gegen Frauen und Mädchen: Katholische Priester tun es, und auch manch linken Vorzeigelehrer ließ man unbestraft Minderjährige gleichen Geschlechts ihrer Lust auf Macht unterwerfen. Davon haben wir in den letzten Jahren in den Medien viel gehört, zum Glück.

Dass das nun im Magazin Le Nouvel Observateur erschienene Manifest nur vergewaltigte Frauen in den Blick nimmt, ist etwas unterkomplex – das Anliegen entwertet es aber nicht.

Erst wenn die Tatsache, dass die Opfer mit ihren Vergewaltigern kommuniziert haben, nicht mehr zur Entlastung des Aggressors führt; erst wenn die jedem Vergewaltiger eigene Unfähigkeit, sich in sein Gegenüber einzufühlen, nicht mehr als „so sind sie halt, die Männer“ von Männern und Frauen aller politischen Couleur normalisiert, sondern als pathologisch verworfen wird – erst dann können wir uns solche Manifeste sparen. Das dauert noch ein bisschen.

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