Welzer und die Köchinnen

SCHLAGLOCH VON MATHIAS GREFFRATH Übers Nichtwählen und die Aufgabe der Intellektuellen

■ ist Autor für taz, Zeit und Radio. In seinem Hörspiel „Küchenpersonal“ geht es um die Köchin und den Staat. (www.wdr5.de/sendungen/hoerspiel-am-dienstag). Zuletzt schrieb er hier über Ostern ohne Wunder.

Der Staat stirbt ab, und das nun schon seit Jahren – aber ganz anders, als Marx und Lenin sich das vorgestellt haben. An die Stelle der direkten Herrschaft über Menschen ist nicht die Verwaltung von Sachen durch die sprichwörtliche Köchin getreten, sondern die Exekution der Profitmargen durch metanationale Sachzwangagenturen. Euro-Europa, so schreibt es Wolfgang Streeck in seinem Buch „Gekaufte Zeit“, nähere sich bedrohlich „dem Ideal einer politischen Ökonomie ohne Parlament und Regierung“. Und ohne Opposition: Grüne und SPD haben die Rettungspolitik für Großgläubiger abgesegnet; Bildung, Energie, Klima bleiben im Halbschatten der Rettungsspektakel.

Und wenn man heute – wie ich es kürzlich gemacht habe – ein paar Köchinnen fragt, was sie von Politik halten, dann sagen sie: „Als ehrlicher Mensch, der was in der Politik bewirken will, scheitern sie doch schon im Bezirk.“ Oder: „Die machen doch, was sie wollen.“ Oder gleich: „Ich wähle ungültig.“

Die sind halt alle zufrieden!

Bei solcher Stimmung im Volk kann ich es fast verstehen, wenn Harald Welzer in einem Spiegel-Essay etwas schrill bekennt, er werde nicht mehr wählen. Angesichts der Einheitspartei „CDUFDPSPDGRÜNELINKE“ gebe es kein kleineres Übel mehr. Allein der Widerstandsakt des Nichtwählens könne die Parteien nötigen, „sich daran zu erinnern, wer in der Demokratie der Souverän ist“. Gut gebrüllt, aber ich erinnere mich noch gut an Angela Merkels Reaktion auf den 55-Prozent-Wahlenthaltungsrekord in Sachsen-Anhalt: Das könne doch auch heißen, die Menschen seien zufrieden.

Die einseitige Kündigung der Bürger wird die Eliten nicht davon abhalten, noch mehr Europa-Integration im Dienste der Renditen zu forcieren, noch mehr soziale Opfer für das Johannisfeuer des Wachstums zu fordern, noch mehr Austeritätskommisare à la Monti zu installieren. Und, demnächst vielleicht, von China zu lernen: In diesen Tagen stellte der Milliardär Nicolas Berggruen in Berlin sein Buch „Klug regieren“ vor, das schon mal andenkt, wie es wäre, wenn man relevante Entscheidungen nicht von Parlamenten, sondern von „meritokratischen Elitegruppen“ treffen lässt.

Schon deshalb geht es demnächst nicht länger nur um die Verteidigung des Sozialen, sondern auch der Demokratie. Vor 18 Monaten noch hatte Harald Welzer zehn intellektuelle Freunde zu einer Intervention gegen den neoliberalen „Angriff auf die Demokratie“ zusammengeführt. Die Redner forderten, endlich „Ernst zu machen“ und die geschwächten Institutionen der Demokratie instandzubesetzen. Ernst zu machen aber auch mit der Erkenntnis, dass eine nachhaltige und demokratische Zukunft nicht ohne Zumutungen zu haben ist: an die Steuermoral der oberen, den Lebensstil aller.

Faschismus mit Facebook

Und nun wirft Welzer das politische Handtuch. Ein Hauch von Resignation liegt über seinem Aufruf zur Wahlenthaltung, aber genau deshalb auch über seinem letztem Buch. In „Selbst denken“ erzählt er geglückte Geschichten über die Pioniere der Postwachstumsgesellschaft: Stromrebellen, Reparaturcafés, Schulrevolutionäre, Tauschökonomen. Alles inspirierend, alles zukunftsweisend.

Aber, so die kalte analytische Dusche, in den nächsten zwanzig Jahren werde sich entscheiden, ob aus diesen Inseln des Neuen das Festland der „reduktiven Moderne“ werde oder ob wir in einer Fassadendemokratie landen, in der die Bürgerrechte der Überflüssigen reduziert und der Staat sich darauf beschränkt, die Gewaltausbrüche der Unterschichten niederzuhalten – eine Art „Faschismus mit Facebook“, in dem die Nischen solidarischer Wirtschaft allenfalls als Freigehege für Unangepasste geduldet werden dürften.

Welzers frische Ermutigung, in den Freiräumen des Systems eine Kultur des „besser statt mehr“ für übermorgen zu erproben, bleibt auf den Fortbestand der Demokratie angewiesen. Aber gerade dies, die friedliche Koexistenz von Kapitalismus und Demokratie, ist aufgekündigt. Sie war nicht die Regel, sondern die Ausnahme – so in schöner Klarheit das Resümee in Streecks Analyse. Die „Hauptkampflinie“ heute müsse daher sein, die Märkte wieder unter soziale und politische Kontrolle zu bringen. Dazu bedürfe es „jahrelanger politischer Mobilisierung und dauerhafter Störungen der gegenwärtig sich herausbildenden sozialen Ordnung“. Der Rohstoff für solche Interventionen sei das „unbelehrbar romantische Bestehen vieler kleiner Leute“ darauf, „dass die Märkte sich an die Menschen anpassen sollen statt umgekehrt“.

Die einseitige Kündigung der Bürger wird die Eliten nicht daran hindern, noch mehr Austeritätskommissare zu installieren

Krawalle? Ein guter Anfang

Die Arbeit von Intellektuellen, so Streeck, bestehe darin, unbeeindruckt von Populismusvorwürfen oder Kritik an vermeintlicher Unterkomplexität, dieses Insistieren auf der Idee des Volkseigentums zu verstärken: „Paris und Turin 1968 sind bei der dirigierenden Klasse noch nicht ganz vergessen. So gesehen waren die gelegentlichen Straßenschlachten in Athen ein guter Anfang.“

Soziale Bewegungen werden nur wirkungsstark, wenn sie über kurz oder lang politische Arme bekommen. Niemand erwartet, dass Intellektuelle zu Parlamentariern werden, aber es wäre fatal, wenn sie die Abwendung von den Institutionen der Demokratie noch verstärken würden. Es mag ja sein, dass 3 bis 5 Prozent der Bürger reichen, um kulturellen Wandel anzustoßen, wie Welzer glaubt. Stabil wird er nur durch Mehrheiten und Gesetze: So war es beim Rauchverbot, bei der Solarenergie, bei der Schwulenehe. Erst recht bedarf es beim Übergang zu einer postfossilen Gesellschaft ohne Wachstum viel staatlicher Autorität. Ob diese in Richtung einer befriedeten und gerechten Gesellschaft ausgeübt wird oder turbofeudal und barbarisch, darüber entscheiden die Anziehungskraft der Alternativen, der Unmut der vielen und eine Renaissance des Parlamentarismus. Und wenn es noch so etwas wie die Verantwortung von Intellektuellen gibt, besteht sie darin, diese drei Dimensionen zusammenzudenken und zu führen: die „Köchinnen“ wieder für den Staat zu interessieren. Notfalls so wie nach 68: durch massenhaften Eintritt in machtbesessene und zukunftsvergessene Parteien.