Input, Output, Putput

Plädoyer für eine aufrichtige Schule, die Kinder weder beschämt noch sie zum Bluffen verführt

Alle reden sie von der Zukunft“, schrieb Arthur Schopenhauer, „versäumen dabei das Seyn und die Zukunft macht Bankrott.“ Damit wäre eigentlich fast schon alles über die Verwahrlosung und Wirkungsschwäche unserer Schulen gesagt. Was den Schülerinnen und Schülern und auch mehr und mehr den Studierenden am meisten fehlt, ist wache Gegenwart. Die Zeit, in der Neulust aufkommt und der Kopf strahlt. In der der Horizont weit wird und Zukunft entsteht. Zukunft ist ja nicht die Fortschreibung der Vergangenheit und schon gar nicht der sogenannte Ernst des späteren Lebens, mit dem Kindern immer noch gedroht wird, statt sie jetzt ins Leben einzuladen. Zukunft entspringt aus hellwacher Gegenwart.

„Der Schüler kam, saß und vergaß“, drucken sie sich aufs T-Shirt. Sie wissen, was los ist. Harmlos wirkende Studis unterbrechen mit freundlicher Stimme die akademische Lehrperson und sagen: Das ist ja ganz interessant, was Sie da erzählen, aber sagen Sie doch lieber gleich, was Sie prüfen, das lernen wir dann. Und das tun sie ja auch wirklich. Erst mal. Und dann vergessen sie. Sie spielen ein Spiel mit, an das sie eigentlich nicht mehr glauben. Mehr und mehr ist vom „Bulimielernen“ die Rede. Eine etwas ekelhafte Angelegenheit.

Das auf acht Jahre verkürzte Gymnasium mit zum Teil 35 Wochenstunden und 13 Fächern ist zum Inbegriff dieser Entfremdung geworden. Es erinnert an einen aufheulenden Motor in einem Fahrzeug mit defekter Kupplung. Statt das Betriebssystem zu untersuchen, kapriziert man sich darauf, den ziemlich entkoppelten Motor immer weiter auf Höchstleistung zu tunen.

„Mein Kopf ist voll. Ich habe kein Leben mehr“, schrieb Yakamoz Karakurt, eine damals 15-jährige Schülerin, in einem glänzenden Essay in der Zeit. Ein Jahr später trug sie eine aktualisierte Fassung vor: „Jetzt geht es mir besser, was aber vor allem daran liegt, dass ich die Schule nicht mehr so ernst nehme.“ Ist das nun das Resultat nach all den Jahren von Schule? Fortschritte in Gleichgültigkeit?

Das Gelernte wird zum Mittel. Die Welt, um die es doch geht, verliert dabei ihren Eigenwert. Sie wird allmählich entwertet, wird egal und am Ende sogar scheißegal. Statt Bildung Weltverlust. Viele Kinder und die meisten Jugendlichen schalten allmählich auf Bluff um und retten sich in Dienst nach Vorschrift. Sie schleppen ihre Körper in den Unterricht, stellen sie dort ab, und die Fantasie geht spazieren.

Natürlich führen Schüler und Studenten noch ein Leben neben den Institutionen. Und es stimmt ja, was die Hirnforscher sagen, dass sich Lernen bei Menschen gar nicht verhindern lässt. Aber ist das Lernen wirklich die Hauptsache in den Schulen und Hochschulen? Oder dominiert Belehrung? Lernen wird mit Kopieren verwechselt. Der Stoff wird durchgenommen. Der Stoff und immer wieder der Stoff. Lernen, das große Projekt des eigenen Lebens? Lernen, eine faszinierende Aktivität der Lernenden? Da gucken die coolen Schüler erst mal ungläubig.

Wäre es für Lehrer nicht an der Zeit, ein Gelübde abzulegen, den Stoff den Dealern zu überlassen und sich endlich mit der Vielfalt der Stoffe, der Substanzen und Relationen, also mit der enormen Welt zu beschäftigen? Immer wenn sie das tun, kommen auch ihre Schüler und Studenten auf den Geschmack. Von all dem allerdings, was nicht angeeignet und verdaut wird, bleibt nicht viel.

Eigentlich wissen das ja alle. Auch die Pädagogen. Aber glauben sie daran? Manfred Spitzer, Neurologe und Psychiatrieprofessor, der auch Philosophie studiert und abgeschlossen hat und außerdem, aber illegal, auch noch die Psychologie, macht bei seinen Vorträgen vor Lehrern gern ein kleines Erkenntnis-Happening mit ihnen. Er bittet sie um eine Viertelstunde. Sie sollen notieren, was ihnen so an Oberstufenmathematik einfällt. Seine Assistenten verteilten dafür jede Menge DIN-A4-Blätter. Nach einiger Zeit fängt er an zu grinsen. Und dann kommt aus dem Saal ein donnerndes Lachen zurück. Denn wer nicht gerade Mathelehrer oder Ingenieur geworden ist, braucht dafür kein DIN-A4-Blatt und schon gar keine Viertelstunde. Eine Streichholzschachtel würde reichen. Jetzt verstehen seine Hörer, dass es zum Genie des menschlichen Gehirns gehört, zu vergessen, was nicht gebraucht oder geübt beziehungsweise ausgeübt wird. Denn das Gehirn ist das Protokoll seiner Benutzung. Klar. Beifall. Strahlende Pädagogen. Aber am Tag darauf, wenn sie vor der Klasse stehen, nehmen sie wieder ihren Stoff durch. Und wenn jemand fragt: Warum sollen wir das lernen?, dann sagen sie: Fürs spätere Leben.

Meine Freundin Ulrike Kegler ist Schulleiterin in Potsdam. Ihre staatliche Montessori-Oberschule erhielt Preise, auch den Deutschen Schulpreis. Sie ist ideenstark und mutig. Wir haben zusammen das Netzwerk Archiv der Zukunft gegründet und Kongresse organisiert. Vor einiger Zeit bekam ihre Sekretärin einen Anruf aus der Schulverwaltung. Frau Kegler soll bitte vorbeikommen, und zwar zeitnah. Stark abweichende Ergebnisse bei den Vergleichsarbeiten im Lande Brandenburg! Sie dachte: Scheiße. Und ein bisschen zweifelte sie an sich und ihrer Schule.

Der Schulrat aber empfing sie strahlend: Frau Kegler, ich gratuliere Ihnen. Bitte verraten Sie uns Ihr Geheimnis. Auf die Idee, dass Ergebnisse in zwei Richtungen abweichen können, ist sie nach diesem Anruf gar nicht gekommen.

Es gibt hier zwei Geheimnisse. Das eine konnte sie dem Schulrat verraten. Gute Ergebnisse bringt eine Schule, die Kinder nicht beschämt. Eine Schule, die sie nicht zum Bluffen verführt. Eine, in der alle am Ende etwas anderes wissen und gerade deswegen sich zu verständigen gelernt haben. Eine Schule, in der das Wissen und die Welt nicht egal geworden sind.

Das andere Geheimnis ist verborgener und keines des Erfolges, sondern einer Haltung, die uns in den Knochen sitzt. Warum glauben wir nicht dem, was wir wissen? Woher kommt der Generalverdacht, dass Schüler freiwillig gar nicht lernen wollten? Dass man sie wie Fässer füllen muss und sie nicht wie Fackeln entzünden kann? Diese Frage zieht sich von Heraklit über Rabelais bis in die Reformpädagogik durch die abendländische Geschichte. Lernen heißt nicht, Fässer zu füllen, sondern Flammen zu entzünden, sagten schon die Alten.

Ein Geheimnis des Flammenentzündens hat mir der Landwirt Mathias Peeters verraten, der in der Potsdamer Schule mitarbeitet. Die Schüler gehen dort in der siebten und achten Klasse eine Woche im Monat nicht in die Schule, sondern zum Schlänitzsee. Sie kultivieren das Gelände eines ehemaligen Ferienheims des Stasi. Sie verwandeln es, und sie verwandeln sich. Sie bauen, pflanzen, ernten, kochen, reden, entdecken, und sie denken. Ich fragte Mathias Peeters, was ihm an den Jugendlichen auffällt. Aufrichtige Anteilnahme, war seine Antwort – und nach einer kleinen Pause: Auch aufrichtige Nichtanteilnahme.

Dass Anteilnahme an die Möglichkeit zur Nichtanteilnahme gebunden ist, klingt etwas fundamentalbanal. Dass dieses Grundgesetz fast prinzipiell missachtet wird, ist der Skandal der standardisierten Bildung. Wenn das Nein ausradiert worden ist, wird auch das Ja gebremst. Das ist der große Fehler im Betriebssystem zumal der beschleunigten Schule. Immer nur Müssen. Kaum noch Wollen.

Wenn Jugendliche das Recht verlieren, Ja und Nein zu sagen, haben sie jahrelang nur noch das eine Fach: Irgendwie-Durchkommen. Leben wird auf Überleben reduziert. Wie Betriebswirtschaftler ihrer selbst kalkulieren sie Input und Output. Und wenn dann Putput herauskommt, wird das als Beweis dafür angesehen, dass noch nicht genug gestopft und standardisiert worden ist.