Egoismus und Aufstand

Ob in Brasilien oder der Türkei: Nicht das Elend, sondern der neue Wohlstand führt zu Unmut

■ ist Professor für Politikwissenschaften an der Universität Göttingen und schreibt regelmäßig für Zeitungen und Magazine. Bekannt wurde er vor allem durch seine Parteienforschung. Die taz interviewt ihn regelmäßig zu Wahlergebnissen. Zuletzt erschienen von ihm „Die neue Macht der Bürger – Was motiviert die Protestbewegungen?“. Zwei Jahre zuvor aktualisierte er sein Standardwerk „Die SPD – Biographie einer Partei“ (beide Rowohlt).

Was heizt Revolten an? Not und Verelendung? Oder wirtschaftlicher Aufschwung und Wohlstandsmehrung? Diese Frage ist so neu nicht. Aber die Proteste in Brasilien und in der Türkei mit etlichen Aktivisten aus neu formierten Mittelschichten machen sie wieder aktuell.

Unzweifelhaft hat die rhapsodische Geschichte von Rebellionen und Revolutionen deutlich gemacht, dass Zeiten der Not und schlimme ökonomische Krisen denkbar ungute Jahre für den gezielten und wirksamen sozialen Gegenschlag sind. Menschen in Armut kündigen vielmehr still ihre Sozialkontakte auf, ziehen sich auf sich selbst zurück, neigen zur Apathie, nehmen keine Möglichkeiten wahr, die Verhältnisse grundlegend umzustülpen oder auch nur graduell zu bessern.

Auch mit den neuen Unterschichten des 21. Jahrhunderts, den oft so charakterisierten „Entbehrlichen“, ist für die große linke Transformation nicht zu rechnen. Im „neuen Unten“ bleiben die Einzelnen negativ individualisiert, ohne Selbstbewusstsein und Zukunftsbilder. Sie mögen in Zeiten ruckartiger sozialer Verschlechterung zum Resonanzboden für erratische antikapitalistische Affekte, für strohfeuerartig aufflammende Affekte gegen „die Reichen da oben“ werden, aber sie avancieren nicht zu einem zielbewussten politischen Träger organisierten Protests.

Indessen gilt historisch das: Je stärker sich die Lage ökonomisch verbessert, desto vernehmlicher artikuliert sich die Unzufriedenheit. Alexis de Tocqueville hat auf diesen Zusammenhang von wirtschaftlicher Blüte und rebellischem Trotz bereits in seinen Studien zur Französischen Revolution luzide hingewiesen: „Das Übel ist geringer geworden, aber die Empfindlichkeit ist lebhafter.“ Mit diesem Satz charakterisierte er die kollektive Mentalität der französischen Bevölkerung am Vorabend der großen Unruhen in Paris.

Gerade die fortgeschrittensten Regionen des Landes, in denen Reformen bereits gegriffen hatten, der Wohlstand sich allmählich ausbreitete, wurden zu Brennpunkten der Erhebung. Dagegen blieben die rückständigen Landesteile durchweg Domänen der politischen Rechten, später der aristokratischen Konterrevolution.

Der amerikanische Ökonom und Sozialwissenschaftler Mancur Olson hatte diese Sicht der Dinge weiter radikal zugespitzt. Für ihn bildete rapides wirtschaftliches Wachstum den „tiefgreifendsten Destabilisierungsfaktor“ schlechthin. Denn die Expansion der Ökonomie pflegt die Anpassungserfordernisse des Staates zu multiplizieren, was ihn allerdings maßlos überfordert und weshalb er mit seinen nachsorgenden Entscheidungen eine Fülle von negativen Folgen freisetzt. Überdies: Wirtschaftliches Wachstum erweitert den Spiel- und Verteilungsraum, aktiviert so das Begehren, stoppt das passive Sichschicken in die Verhältnisse.

Gefährlich wird es für die Träger der herrschenden Ordnung dann, wenn sich der Wachstumszyklus abschwächt und der neue Kadernachwuchs für die gesellschaftlichen Führungsschichten das Tor zum Aufstieg plötzlich verriegelt vorfindet. Das vorangegangene Wachstum hatte ihre Hoffnungen auf Karrieren und Leitungsfunktionen angespornt und legitimiert. Jetzt aber kommt die Enttäuschung über jähe Blockierungen auf, über unerwartet diskontinuierliche Berufswege, unvorhersehbare Statusverluste.

Ausgebremste Gegeneliten jedenfalls sind stets die Prediger, Ideologieproduzenten und Organisatoren großer sozialer Unmutsbewegungen. Und immer ist es eine verbarrikadierte Zukunft, sind es frustrierte Hoffnungen, welche die Zurückgewiesenen in das Bündnis mit den Schwachen treibt – nicht Philanthropie oder Altruismus.

Die Soziologen kleiden den Sachverhalt in den Begriff der „Statusinkonsistenz“, was die Diskrepanz zwischen hohem Selbstanspruch und demgegenüber vergleichsweise geringer gesellschaftlicher Position meint, woraus sich Revolten speisen. Wenn die Elitenzirkulation solchermaßen stockt, dann bekommen soziale Ordnungen einen Gegner, der keineswegs sozial unten siedelt. Elitenrivalität und Elitendissens bildeten historisch oft genug den Auftakt für Weichen stellende gesellschaftliche Konflikte. Elitenzugehörige, deren eigene Wahrnehmung ihrer Werteposition nicht mit der realen gesellschaftlichen Rolle synchron läuft, vollziehen den Frontwechsel, steigen aus, üben Verrat – oder wie sonst die Metaphern lauten, die man in der Literatur zur Abkehr der unzufriedenen Intelligenz vom klassischen Bürgertum zuschreibend benutzt hat. Ob sich aus der Frustration der gebildet-blockierten Nachwuchselite lediglich eine verspielte Bloggerrevolte von nölenden Foristen im Netz ergibt oder ob das zur Ausgangslage weitreichender Veränderungen wird, hängt gewiss davon ab, ob es zur schwierigen Begegnung der nach oben abgeblockten Frondeure mit einer organisierten Sozialopposition von unten kommt. Indes: Ein Selbstläufer waren und sind solche Symbiosen nie.

Nicht die „alten Armen“ aus Tradition sind also das Problem der Herrschaftsordnungen, sondern die „neuen Armen“ von Hochkonjunkturen, denen es materiell oft keineswegs elendig geht, die ihr Lebensniveau meist erheblich verbessert haben, aber sich wertmäßig nicht angemessen gewürdigt sehen. Die Differenz etwa zwischen exzellenter Bildung hier, trüber oder schwer kalkulierbarer beruflicher Perspektive dort in ein und derselben Person hat geschichtlich den Motor der massenhaften Insurrektion am stärksten ins Laufen gebracht.

Der blockierte Gebildete ist der Repräsentativtypus der aufpeitschenden revolutionären Ansprache und umstürzlerischen Losungen. Schon die Bauernkriege kamen ohne intellektuelle Anführer nicht aus. Auch der Amerikanischen Revolution waren Jahre des verriegelten Aufstiegs für neue akademische Eliten vorangegangen. Die Jakobiner der Französischen Revolution gehörten nicht zur Gruppe der déclassées, sondern zählten mehrheitlich zu den zuvor blockierten Aufsteigern. Etliche der liberaldemokratischen Journalisten und Avantgardisten der frühen sozialistischen Konventikel in der 1848er Revolution waren vielfach juristisch qualifiziert, hatten eine Karriere im Staatsdienst angestrebt, aber wegen der Überfüllung dort nicht realisieren können. Aufstiegsblockade war ebenfalls eine biografische Kernerfahrung der sozialrevolutionären Intelligenzia in Russland vor 1917.

Insbesondere erleben Gesellschaften die Explosion rüde ausgetragener sozialer Konfrontationen, in denen Jugendliche und junge Erwachsenenkohorten dominieren, was Aufwärtsmobilitäten allein durch massenhafte Konkurrenz begrenzt. Allerdings muss die innernationale Mobilitätsbarriere nicht zwangsläufig zur Rebellion führen. Denn Mobilität nach außen ist seit Langem weltweit ein probates Revolten- und Revolutionskompensat. Autoritäre Herrscher exportieren gerne ihre unterbeschäftigten Eliten, bevor diese das Volk zum Sturm auf die Paläste treiben können.

Das mag auch für die enragierten Studierenden aus Portugal, Spanien, aus Griechenland, Italien und Frankreich gelten. Sie beginnen zunehmend, sich in solchen Ländern zu verteilen, deren ökonomische Perspektiven nicht ganz so finster erscheinen.

So können wir gleichsam ein Déjà-vu der 1840er Jahre, des Übergangs zur kapitalistischen Industriegesellschaft erleben, als revolutionäre Handwerker und gescheiterte Akademiker, die Weitlings, Marxens und Bakunins, sich durch Wanderungen nach Zürich, Paris, Brüssel, London zusammenfanden, dann zusammenschlossen und schließlich die Idee der gesellschaftlichen Veränderung europaweit streuten und ihre Anhängerschaft mehrten. Doch: Auch das ist natürlich alles andere als ein Selbstläufer.