Neue Oligarchen

Die Reichen in den USA werden immer reicher? Ach – wenn es nur das wäre!

■ lebt als Journalist in Rom. Seine Mutter war die Schriftstellerin Luce d’Eramo (siehe taz vom 31. 8. 2013). Nach einem Physikstudium in Italien ging er nach Paris und wurde Schüler des Soziologen Pierre Bourdieu. Auf Deutsch liegt vor: „Das Schwein und der Wolkenkratzer. Chicago: Eine Geschichte unserer Zukunft“. Zu empfehlen ist sein populismusfreundlicher Aufsatz für die New Left Review „Populism and the New Oligarchy“, den man auch im Netz findet.

Ein krasses, auf den ersten Blick nicht zu erklärendes Paradox charakterisiert die Entwicklung der US-Gesellschaft in den letzten 40 Jahren: Es gibt riesige Fortschritte in der Bekämpfung der Ungleichheit bezüglich ethnischer Zugehörigkeit, des Geschlechts, sexueller Orientierung und körperlicher Einschränkungen; zugleich aber ist die ökonomische Ungleichheit in schwindelerregendem Ausmaß gewachsen. Mit anderen Worten: Während Schwarze, Hispanics, Frauen, Schwule, Lesben, Gehandicapte weniger diskriminiert werden, ist die Kluft zwischen Armen und Reichen immer größer und die ökonomische Diskriminierung zur unüberwindbaren Hürde geworden.

Die Entwicklung ist so merkwürdig, dass die American Political Science Association, der Fachverband der US-Politikwissenschaftler, sich der Sache annahm und eine Taskforce aus Wissenschaftlern einsetzte – mit allerdings wenig überzeugenden Ergebnissen.

Festhalten kann man Folgendes: Zwischen 1970 und 2012 ist das Durchschnittseinkommen der ärmeren 90 Prozent der US-Bevölkerung von 33.000 auf 30.000 Dollar gesunken, während das der reicheren zehn Prozent von 137.000 auf 244.000 Dollar gestiegen ist (sich also fast verdoppelt hat).

Beschränken wir uns auf das reichste eine Prozent der Bevölkerung, ist das Einkommen von 340.000 auf 1,021 Millionen Dollar gestiegen, hat sich also verdreifacht; und wenn wir innerhalb dieses einen Prozents auf die reichsten zehn Prozent schauen – also auf 0,1 Prozent der US-Bevölkerung –, so ist hier das Durchschnittseinkommen von 844.000 auf 4,661 Millionen Dollar gestiegen, hat sich also mehr als verfünffacht; und wenn wir dann noch die 0,001 Prozent der reichsten US-Familien in den Blick nehmen (im Jahr 1970 waren das 13.000 Familien, heute sind es 16.068), so ist ihr Durchschnittseinkommen von 2,29 Millionen auf 21,57 Millionen Dollar angewachsen, hat sich also fast verzehnfacht (Zahlen des französischen Berkley-Ökonomen Emmanuel Saez).

Das Bild ist klar: Während in den 1970er Jahren das Durchschnittseinkommen der reichsten zehn Prozent viermal höher war als das der restlichen 90 Prozent, ist es nun achtmal höher; das des reichsten einen Prozents ist von elfmal auf 33-mal höher gestiegen, das von 0,1 Prozent von 28- auf 165-mal höher und das von 0,01 Prozent von 76- auf 720-mal höher.

Nicht nur der Abstand also zwischen den zehn und den 90 Prozent ist gewachsen, sondern innerhalb der reichsten zehn Prozent ist die Distanz gestiegen zwischen den weniger reichen neun und dem reichsten einen Prozent. Nicht nur die Wohlhabenden also gewinnen gegenüber der Mittelklasse, sondern die Reichen besiegen die Wohlhabenden, die Superreichen die normal Reichen. Zum ersten Mal seit 1917 kassieren die obersten zehn Prozent mehr als die Hälfte des gesamten Volkseinkommens, die reichsten 0,01 Prozent nehmen sich 4,5 Prozent des ganzen Kuchens. Der Slogan von Occupy Wall Street ist also schlicht falsch. Es geht nicht um „We are the 99 percent“, sondern es müsste heißen 99,9 gegen 0,1 Prozent!

Eine derart ungleiche Verteilung des US-Volkseinkommens hat es zuletzt 1928 gegeben. Die Wende brachte dann vor allem der Zweite Weltkrieg. Damals setzte ein, was Nobelpreisträger Paul Krugman die „Ära der großen Kompression“ genannt hat, in der der Abstand zwischen Arm und Reich kleiner wurde und die niedrigen Einkommen ein größeres Stück vom Kuchen abbekamen. Diese Periode dauerte ungefähr von 1940 bis 1980 (aber die ersten Leuchtfeuer eines Paradigmenwechsels flackerten schon Anfang der 1970er auf).

Die große Kompression hatte mehrere Ursachen: Zunächst ging es um Fiskalpolitik. Von 1946 bis 1963 lag der Spitzensteuersatz für Einkommen über 2, 5 Millionen (heutige) Dollar bei, jawohl, 91 Prozent; und bis zur Präsidentschaft von Ronald Reagan, bis 1981 also, blieb er bei immerhin 70 Prozent.

Heute hingegen werden die Superreichen überhaupt nicht mehr gesondert besteuert. Die sehr moderate Spitzensteuer von 36,9 Prozent greift schon ab einem relativ geringen Jahreseinkommen von 400.000 Dollar, ganz abgesehen davon, dass die Superreichen sich zahllose Schlupflöcher geschaffen und Schutzschirme aufgespannt haben, mit denen sie ihre steuerliche Belastung noch weiter verringern.

Auch die Erbschaftsteuer macht nicht mehr viel her. Wie Warren Buffett, einer der reichsten Männer der Welt, gesagt hat, wird seine Sekretärin mit einigen 10.000 Dollar Jahreseinkommen höher besteuert als er mit einem von Hunderten Millionen Dollar. Zur Erbschaftsteuer sagte Buffett: „Das ist so, als würde man das Olympiateam für 2020 aussuchen, indem man die ältesten Söhne der Goldmedaillengewinner der Spiele von 2000 wählt.“

Zwei andere Aspekte der neuen Ungleichheit darf man aber nicht übersehen: Die Globalisierung hat die Einkünfte für mittelqualifizierte Arbeiten stagnieren beziehungsweise sinken lassen. Die Rede ist hier gemeinhin von einer notwendigen Anpassung der Gehälter an die der wirtschaftlich aufstrebenden und konkurrierenden Nationen. Gleichzeitig sind die Gehälter der Topmanager explodiert: 1970 verdiente ein CEO 39-mal so viel wie der Durchschnittsbeschäftigte. Schon 1999 verdiente er das 1.045-Fache; und heute bekommen die Top-CEOs im Durchschnitt 48,6 Millionen Dollar im Jahr, das 1.100-Fache des Durchschnittseinkommens. Hier hat sich sowohl die Kultur der Manager als auch die derjenigen, die sie bezahlen, fundamental gewandelt. Das bedeutendste Phänomen in diesem Zusammenhang ist jedoch, dass in den USA (und nicht nur dort) zwar die Reichen von der Rezession, insbesondere durch den Zusammenbruch des Aktienmarktes, vergleichsweise hart getroffen wurden (das reichste eine Prozent verlor zwischen 2007 und 2009 36,3 Prozent seines Einkommens), sie jedoch im anschließenden Aufschwung fast den gesamten Verlust wettmachen konnten. 99 Prozent der US-Familien hingegen haben nur 0,4 Prozent des ursprünglichen Verlustes von 11,6 Prozent zurückgewonnen. Für sie gab es überhaupt keine Erholung. Die Elite hat die Krise benutzt, um die Einkommensverteilung noch radikaler zu ihren Gunsten zu verändern. Noch einmal Warren Buffett (2011): „Klassenkampf herrscht in den USA seit 20 Jahren, und meine Klasse hat gewonnen.“

Es versteht sich von selbst, dass die Ungleichheit tief gehende Auswirkungen auf das Funktionieren des Politikbetriebs hat und die Demokratie pervertiert: Denken wir nur an die Gebrüder Koch, die über 98 Milliarden Dollar verfügen. Die Tea-Party-Bewegung wurden von ihnen aus der Taufe gehoben, finanziert und trainiert (vgl. http://kochcash.org/). Aber darauf werden wir noch oft zurückkommen müssen – bis dahin einige Leseempfehlungen:

■ American Political Science Association: „American Democracy in an Age of Rising Inequaity“ (2004). www.apsanet.org/imgtest/taskforcereport.pdf

■ Emmanuel Saez: „Striking it Richer: The Evolution of Top Incomes in the United States“. http://elsa.berkeley.edu/~saez/saez-UStopincomes-2012.pdf

■ Branko Milanovic: „The Haves and the Have-nots. A Brief and Idiosyncratic History of Global Inequality“. Basic Books, New York 2011

■ Über die Einkünfte der Superreichen: The World Top Income Data Base, http://topincomes.g-mond. parisschoolofeconomics.eu/#Database:)

Aus dem Italienischen von A. Waibel