Dicke, schwere Fleißarbeit

KAPITALISMUS Als Theoretiker kann man den neuen französischen Shootingstar Thomas Piketty vergessen. Trotzdem ist der Hype um ihn tröstlich

■ ist Wirtschaftskorrespondentin der taz. Von ihr stammt das Buch „Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen“ (Westend 2013).

Die Ökonomie hat bisher keine Shootingstars hervorgebracht. Seit wenigen Wochen ist dies anders. Der Franzose Thomas Piketty hat mit seinem Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ einen Megabestseller gelandet und wird nun als „Rockstar der Ökonomie“ gehandelt. Deutsche sind von diesem globalen Hype noch verschont, weil es das Werk bisher nur auf Englisch und Französisch gibt. Aber die deutsche Übersetzung kommt 2015.

Pikettys Blitzkarriere ist erstaunlich, denn sein Buch ist eine Zumutung. Viele Rezensenten behaupten zwar, es sei „packend geschrieben“, was nur heißen kann, dass sie nicht weiter als bis zum Vorwort vorgedrungen sind. Das Buch zieht sich zäh dahin und ist mit methodischen Hinweisen vollgestopft, für die eine Fußnote gereicht hätte. Von den 685 großformatigen Seiten sind mindestens 600 überflüssig.

Der Möchtegern-Marx

Diese Einschätzung wird anscheinend von Piketty geteilt, denn seine wissenschaftlichen Aufsätze zum selben Thema zählen nie mehr als 50 Seiten. Manche seiner Texte kommen sogar mit fünf Seiten aus, ohne dass der Erkenntnisgewinn geringer wäre.

Aber Picketty hat richtig erahnt, wie seine Ökonomiekollegen und der Buchmarkt funktionieren: Nur ein Wälzer hat die Chance, zum „Standardwerk“ aufzusteigen. Also hat er einen Wälzer produziert. Da es um reine Quantität geht, tut man dem Buch nicht Unrecht, wenn man auch das Gewicht mitteilt: Es wiegt 1,2 Kilo und ruiniert jede Tasche.

Neben dem schieren Umfang ist auch der Titel so gewählt, dass der Anspruch deutlich wird, ein Standardwerk zu bieten: Nicht umsonst spielt Piketty auf das „Kapital“ von Karl Marx an, um zu unterstreichen, dass er die gültige Erklärung für den heutigen Kapitalismus liefern will.

Nur: Der Kapitalismus wird bei Piketty gar nicht analysiert. Er formuliert zwar zwei „Grundgesetze des Kapitalismus“, doch bei näherem Hinsehen sind dies tautologische Beschreibungen zum Thema Vermögensbildung, die mit dem Kapitalismus als einer spezifischen historischen Gesellschafts- und Wirtschaftsform nichts zu tun haben. Wie Piketty selbst ausführt, galten dieselben „Gesetze“ auch schon im feudalen Ancien Régime.

Pikettys Werk beruht auf einer Datensammlung, die weltweit einmalig ist: der World Top Incomes Database. Um das Einkommen und Vermögen der Eliten zu erfassen, wertet dieses Projekt alle verfügbaren Steuerdaten aus, die – je nach Land – bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen können.

Diese Datensammlung ist zweifellos verdienstvoll, stammt aber nicht von Piketty allein, sondern ist ein Gemeinschaftsprodukt mehrerer Wirtschaftshistoriker. Zudem sind die Zahlen längst bekannt. Die Daten für Deutschland zum Beispiel wurden bereits im Jahr 2007 publiziert. Picketty bietet also keine neuen Erkenntnisse – sondern nur eine recht seltsame Deutung alter Zahlen.

Für Fans schlichter Mathematik

Sein Ausgangspunkt ist eine Beobachtung, die breit geteilt wird: In allen Industrieländern ist seit etwa 1980 festzustellen, dass die Vermögen sehr schnell wachsen, während die Wirtschaft tendenziell stagniert. Die Reichen werden reicher, während die unteren Schichten kaum profitieren. Zwar geht es Arbeitern und Angestellten deutlich besser als zu Zeiten Marx’, aber die Verteilung ist nicht viel gerechter geworden. Das Kapital ist hochkonzentriert und befindet sich in den Händen von Familiendynastien.

Diese Befunde wandelt Piketty nun in seine zwei „Grundgesetze des Kapitalismus“ um. Das erste „Gesetz“ ist allerdings gar kein echtes Gesetz, wie Piketty selbst zugibt, sondern folgt zwingend aus der Logik der Begriffsdefinitionen. Wer keine Lust auf technische Ausdrücke hat, kann daher den Rest dieses Absatzes überspringen – und beim nächsten wieder einsteigen. Für die Fans schlichter Mathematik sei das „Gesetz“ aber kurz reportiert: Der Anteil der Vermögenseinkommen am Volkseinkommen ist gleich der Vermögensrendite mal dem Verhältnis von Vermögen zum Volkseinkommen. Alles klar?

Auch das zweite „Gesetz“ ist tendenziell tautologisch: Wenn das Vermögen der Reichen zunimmt und das Wachstum niedrig ist, dann steht immer mehr Vermögen einem eher stagnierenden Volkseinkommen gegenüber. In ihrer Binnenlogik ist diese Formel immer wahr, aber über den Kapitalismus sagt sie gar nichts.

Dies gilt auch für den „zentralen Widerspruch des Kapitalismus“, den Piketty ausmacht: Die jährliche Rendite der Vermögenden sei immer höher als die Wachstumsrate, weswegen die Reichen automatisch reicher würden. Dieses Missverhältnis ist uralt und hat mit dem Kapitalismus ebenfalls nichts zu tun. Auch der römische Sklavenhalter konnte sich über stattliche Renditen freuen. Einziger Unterschied: Die Wirtschaft stagnierte damals gänzlich.

Zu dürres empirisches Material

Bei Piketty landet das Wachstum wie ein Ufo in der Welt – und wird dann nur noch in Prozentzahlen gemessen

Piketty läuft in eine Falle, die in der Ökonomie häufig zu beobachten ist: Er setzt voraus, was er erklären müsste. Beim Kapitalismus ist die zentrale Frage: Wie entsteht Wachstum? Denn der Kapitalismus ist das allererste Sozialsystem der Menschheitsgeschichte, das dynamisch ist. Doch bei Piketty landet das Wachstum wie ein Ufo in der Welt – und wird dann nur noch in Prozentzahlen gemessen.

Piketty ist stolz darauf, dass er historische Fakten wie Steuerdaten zur Kenntnis nimmt und anders als viele seiner Ökonomiekollegen nicht nur Wolkenschlösser baut. Bissig heißt es in seinem Vorwort: „Die Wirtschaftswissenschaften müssen ihre kindische Leidenschaft für Mathematik und für rein theoretische und oft hochideologische Mutmaßungen überwinden.“

Aber Steuerdaten und volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen sind eben nur ein Teil der historischen Empirie und reichen nicht aus, um den Kapitalismus und seine Ungerechtigkeiten zu erklären. Kleiner Lektüretipp: Die „General Theory“ von John Maynard Keynes ist zwar ebenfalls sperrig, aber immer noch genial.

Als Theoretiker kann man Piketty abhaken, trotzdem ist der Hype tröstlich. Offenbar ist die Mehrheit nicht mehr bereit, die Selbstbereicherung der Eliten zu tolerieren.

ULRIKE HERRMANN