Kommentar Urteil zur Vollverschleierung: Ein schwieriger Richterspruch

In Europa zählt die Möglichkeit, einem Menschen ins Gesicht schauen zu können, mehr als religiöse Überzeugungen. Das kann man so sehen.

Das Tragen eines Niqabs darf in Frankreich verboten bleiben, urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Bild: reuters

Natürlich hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ein Werturteil gefällt, als er das französische Verbot der Vollverschleierung für rechtens erklärte. Die Frage ist: Welche Werte werden hochgehalten? Wer behauptet, die Verbannung von Burka und Nikab aus dem öffentlichen Raum diene vor allem der Befreiung unterdrückter Frauen, macht es sich zu leicht.

Religiöse Überzeugungen erscheinen Außenstehenden oft irrational und schwer nachvollziehbar. Aber in Gläubigen sind sie tief verankert. Die Furcht, in der Hölle zu enden, dürfte ein erheblich schwererer Druck sein als jeder noch so tyrannische Ehemann. Es ist unerträglich naiv zu glauben, dass jede Frau vor allem familiäre Repressionen fürchtet, die sich in Frankreich seit dem Verschleierungsverbot nicht mehr auf die Straße traut.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat allerdings – so weit bisher bekannt – weniger auf die Rechte der Frau abgehoben als vielmehr auf das Recht des Staates, das Zusammenleben zu regeln. Anders ausgedrückt: Jetzt ist also letztinstanzlich entschieden, dass wir in Europa die Möglichkeit höher achten, unserem Gegenüber ins Gesicht zu schauen, als individuelle religiöse Überzeugungen.

Man kann das so entscheiden. Aber dann sollte man auch ehrlich sagen, dass man genau diese und keine anderen Prioritäten gesetzt hat. Und auf wolkige Gemeinplätze verzichten.

Ein Grundsatzurteil gewährt nicht nur Rechte, sondern verweigert sie auch. Immer. Allseits beglückende Entscheidungen gibt es nicht – andernfalls wäre es ja gar nicht erst zu einem Rechtsstreit gekommen.

Von der unterlegenen Seite kann verlangt werden, dass sie sich einem Urteil unterwirft. Aber es ist erniedrigend, wenn ihr auch noch die Einsicht abverlangt wird, alles geschehe nur zu ihrem eigenen Besten. Genau das aber tut das französische Gesetz, zum Beispiel mit Kursen in Staatsbürgerkunde für voll verschleierte Frauen. Könnte Paris nicht darauf verzichten – im Interesse des Rechtsfriedens?

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Jahrgang 1956, ist politische Korrespondentin der taz. Von 1996 bis 1999 leitete sie das Parlamentsbüro der Zeitung, vorher war sie sechs Jahre lang deren Korrespondentin für Ost-und Zentralafrika mit Sitz in Nairobi. Bettina Gaus hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt 2011 „Der unterschätzte Kontinent – Reise zur Mittelschicht Afrikas“ (Eichborn).

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