INGO ARZT ÜBER DIE SCHULD DER ANDEREN
: Projektionsfläche Griechenland

Zurückhaltung bei der Schuldzuweisung fehlt, aber genau sie wäre angebracht

Meint es Jean-Claude Juncker ernst, wenn er Griechenland am Dienstag eine „Einigung in letzter Minute“ anbietet? Sind die Sorgenfalten von Angela Merkel echt? Geht es Alexis Tsipras mit seiner Volksabstimmung wirklich darum, die Griechen über ihr Schicksal direkt entscheiden zu lassen, oder will er nur sein Amt retten, Zeit gewinnen mit der demokratischen Moralkeule: Wer kann schon gegen das Votum der betroffenen Bürger eines Landes sein?

Das Erstaunliche an der gegenwärtigen Griechenland-Diskussion ist, dass jeder bereits eine Antwort darauf zu haben scheint. Was wir erleben, ist mediale Geschichtsschreibung im Minutentakt. Vielleicht wäre es ehrlich zu sagen: Die Quellenlage ist reichlich diffus. Alle verfügbaren Informationen sind interessengeleitet. Längst geht es nicht nur darum, das aus der eigenen wirtschafts- oder europapolitischen Ideologie heraus vermeintlich Beste für das eigene Land oder die eigenen Parteigänger herauszuholen. Längst geht es um den Stolz der Akteure. Jedes letzte Angebot dient im Zweifel dem Geschichtsbuch, nicht der Lösung: Wir sind in Europa nicht im Krieg, aber in einem Kampf um Deutungshoheit.

Nur zwei Beispiele: Die Süddeutsche Zeitung hat aufgezeigt, dass die 35 Milliarden, die Griechenland angeblich als Investitionspaket bekommen soll, nichts Besonderes sind. Es ist einfach eine Addition der normalen Strukurhilfen für das Land bis 2020. Der so sorgenvolle Juncker stellt das als großzügiges Angebot dar. Die Rhetorik eines Alexis Tsipras wiederum klingt bisweilen, als stünden die Perser vor Athen und nicht die Troika.

Eine gewisse Zurückhaltung bei der Schuldzuweisung wäre angebrachter. Oder zumindest weniger triumphierende Schnappatmung, wenn ein Neuigkeitsfetzen das eigene Weltbild bestätigt.

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