Dann kam der nächste Notruf

Vor dem Hamburger Amtsgericht wird gegen eine Ärztin verhandelt, weil ein Vierjähriger an einer Überdosis Glukose starb. Dabei war er nur wegen einer harmlosen Operation im Krankenhaus

Die Anästhesistin sah das Kind in höchster Not. Sie nahm an, es habe seit dem vergangenen Tag nichts gegessen und sei unterzuckert

VON SAVINA KOCH

Zum Sterben gibt es nicht den richtigen Zeitpunkt. Es ist immer zu früh, oder zu schnell, oder zu spät. Für den vier Jahre alten Franjo war der Zeitpunkt eigentlich noch gar nicht da. Er musste am 7. August 2006 nur für einen Tag ins Krankenhaus, um ambulant an seiner Fimose (Vorhautverengung) operiert zu werden. Am 11. August 2006 war er tot, gestorben ist er an einer Überdosis 40-prozentiger Glukose.

Wegen fahrlässiger Tötung des Vierjährigen muss sich seit Montag eine 49-jährige Anästhesie-Ärztin vor dem Amtsgericht Hamburg Wandsbek verantworten. Dass auch das Leben der Angeklagten zerbrochen ist, sieht man mit einem Blick. „Ich habe eine schwere Schuld auf mich geladen, mit der ich seitdem leben muss“, sagt sie vor Gericht. Es gebe nichts, was sie unversucht lassen würde, um den Tod des Jungen ungeschehen zu machen.

Gebeugt, den Schopf verhüllt mit einem geblümten, pinkfarbenen Seidentuch, versucht die Angeklagte ihre Scham zu verbergen. Sie habe immer versucht, eine perfekte Arbeit zu machen, sagt sie. Ärzte seien auch Menschen, sie dürften aber keinen Fehler machen. „Der, der mir unterlaufen ist, ist tödlich verlaufen. Vielleicht können Sie mir irgendwann einmal wenigstens vergeben,“ sagte sie zur 29 Jahre alten Mutter des Jungen. Seit dem 11. August vor zwei Jahren hat sie nicht mehr als Ärztin gearbeitet, sie ist seither beurlaubt.

Franjo war in der dem Hamburger Wilhelmstift angegliederten Tagesklinik operiert worden und hatte Schwierigkeiten mit dem Aufwachen gehabt. Als er um 17 Uhr immer noch nicht richtig wach war, wurde er auf die Station 7 des Krankenhauses verlegt, weil die Tagesklinik schloss. Dort lag er, wie üblich, in seinem Bettchen im Flur. Mutter und Oma waren bei ihm. Langsam erwachte er, war etwas unruhig, da nahm ihn seine Mutter auf den Arm. Franjo aß Salzstangen und trank etwas. Er sollte nach dem Erwachen noch kurz auf die Toilette, dann könne man heim. Eine Ärztin kam vorbei, fühlte kurz die Stirn, fand sie heiß. Es sollte ein Zäpfchen verabreicht werden. Da Franjo aber keine Zäpfchen mag, musste er dazu gezwungen werden. Dabei erbrach er sich.

Wegen der leicht erhöhten Temperatur wurde die für die Operation am Mittag zuständige Anästhesistin geholt. Eine Frau, die ständig zu Notfällen gerufen wird, im Minutentakt lebenswichtige Dinge entscheiden muss. Der kleine Junge war immer noch schlaff und kuschelte auf Mutters Arm. Die Ärztin hatte den Eindruck, es sei dringend Hilfe geboten. Franjo erzählte zwar noch, dass er am Meer war und dort Krebse gesammelt habe. Aber die Anästhesistin sah das Kind in höchster Not. Sie nahm an, es habe seit dem vergangenen Tag nichts gegessen und sei unterzuckert. Sie gab ihm Glukose. Statt der üblichen kleinen Portion hatte man auf der Station 7 nur 500 Milliliter vorrätig. Der Infusor wurde auf eine Stunde eingestellt, der Traubenzucker tropfte nun in den kleinen Patienten. Bei seinen 18 Kilo Körpergewicht hätte er, wenn überhaupt, höchstens zehn Milliliter bekommen dürfen. Nach Aussage der Ärztin wollte sie nach drei Minuten wiederkehren und die Versorgung unterbrechen. Die Mutter jedoch hörte: „Das muss jetzt erst mal durchlaufen.“

Die Angeklagte ging auf den Balkon. „Ich musste mal Luft holen.“ Dann der nächste Notruf, ein Kind hatte sich den Arm gebrochen. Erst etwa eine Stunde später, als Franjo schon krampfte und nie wieder richtig zu sich kam, fiel ihr alles ein. Sie sagte jedoch nichts, „weil es peinlich war“. Erst am späten Abend machte sie sich klar, wie viel Glukose das Kind bekommen hatte.

„Es wurde mir von allen Seiten immer wieder versichert, dass alles in Ordnung ist“, erklärte die junge Mutter. Da war das Hirn ihres Sohnes schon derart angeschwollen, dass das Stammhirn eingeklemmt war. Die Schäden waren irreparabel, er starb vier Tage später. Viel zu früh.

Das Urteil wird am 26. Mai erwartet.